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Öffnen Sie das Tor!
Neue Zürcher Zeitung
5. Oktober 2002 - Claudia Schwartz
Für die Deutschen ist es ein Nationalsymbol, für die Berliner das schönste Streitobjekt. Das Brandenburger Tor, dessen Hüllen nach zweijähriger Sanierung am Tag der deutschen Einheit gefallen sind, bietet seit der Wende Stoff zu Diskussionen. Damals entschied man sich bei der Restaurierung der Quadriga für den Originalzustand vor dem Krieg und brachte das Eiserne Kreuz, das die DDR hatte entfernen lassen, wieder in Viktorias Siegeskranz an, begleitet von einer heftigen Debatte, ob ausgerechnet ein Symbol deutschen Militarismus hoch auf dem Wahrzeichen Berlins prangen dürfe.

Auch die Sanierung ging nicht ohne Gezeter vonstatten. Die Geschichte des Denkmals, seit Carl Gotthard Langhans den Bau 1791 fertigstellte, bot vier Varianten. Man entschied sich für die pure «Steinsichtigkeit». Dass man nicht mehr Fragen des nationalen Selbstverständnisses erörterte, sondern die Gestalt des Tores zur Geschmacksfrage wurde, die Passanten durch Münzeinwurf entschieden, mag man als Zeichen der Abkehr vom deutschen Sonderweg lesen. Welche Hauptstadt auf der Welt würde die Farbgebung ihres Wahrzeichens Touristen überlassen?

Dabei böte das Brandenburger Tor einigen Anlass zum Nachdenken über den deutschen Patriotismus. Wie kein anderes Bauwerk ist das Tor Nationalsymbol, doch haben daran andere Nationen nicht geringeren Anteil als die Deutschen selbst. Der Architekt Langhans erdachte sein Bauwerk als Öffnung des «alten Zopfstils» hin zur griechischen Klassik. Napoleon entführte die Quadriga nach Paris, wo sie acht Jahre als Sinnbild nationaler Schmach dienen musste. Erst dies befeuerte den Nationalstolz so, dass Preussen nach der Revanche die zurückgeholte Viktoria mit Eisernem Kreuz, Eichenlaub und gekröntem Adler dekorierte. Und erst die von der Sowjetunion verfügte Abschnürung der Osthälfte Berlins machte das Tor zum Symbol der deutschen Teilung, später zu jenem der deutschen Einheit.

Der sowjetische Satellitenstaat DDR liess die Ruinen der Gebäude abtragen, die das Tor eingerahmt hatten. Es entstand eine Ödnis an der Sektorengrenze zu Westberlin; nach dem Mauerbau konnten nur ostdeutsche Grenzsoldaten zu dem einsam im Sperrgebiet stehenden Tor gelangen. Es wurde zur Projektionsfläche für die Sehnsucht nach Einheit. Vom Westen aus rief Reagan Gorbatschew zu: «Öffnen Sie das Tor, reissen Sie die Mauer nieder.» Die Mauer ist gefallen, die Baulücken sind in pseudohistorischer Rekonstruktion fast geschlossen. Es bleiben die Erinnerung und der Berliner liebster Streit ums Brandenburger Tor. Vor kurzem entschied sich der Senat zu seiner Schliessung für den Autoverkehr, doch es fehlt nicht an Stimmen, die einmal mehr fordern: «Öffnen Sie das Tor.»

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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