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Polyphoner Dom in neuer Komposition
Der Standard

Der vielstimmige Chor einer neuen Kunst-Architektur erklingt am steirischen herbst. Die Ausstellung Latente Utopien im Grazer Joanneum besingt letztlich die Erhabenheit des Raumes ebenso polyphon wie die Renaissance- komponisten die Dombauten ihrer Zeit - nur mit anderen Mitteln.

25. Oktober 2002 - Ute Woltron
Es ist alles eine Frage des Mediums. Früher einmal war das Medium Nummer Eins der Liebe Gott, heute ist es - nein, nicht der Computer, sondern der Mensch selbst, der Einzelne und seine Erfahrungssucht nach sich und seinem Innenleben. Es könnte allerdings auch sein, dass es gar keinen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen gibt.

Die Ausstellung Latente Utopien, eine Koproduktion mit Graz 2003 - Kulturhauptstadt Europas, ist eines der hübschesten bunten Blätter am Kleid des heurigen Steirischen Herbstes. Hier singen die Architekten vielstimmig, aber sozusagen im gemeinschaftlichen Chor das Hohelied der Selbsterfahrung und der Transformation des Altbekannten in neue, auch mediale Dimensionen.

Jede der gezeigten Gruppen hat einen Raum oder einen Raumteil zugewiesen bekommen und mit dem allerlei angestellt: ihn verbaut, ihn mit Modellen, Tapeten, Sitzgelegenheiten et cetera komplettiert. Das Raumerleben der Besucher und damit das eigene steht hier an erster Stelle, das Etwas-mit-sich-Geschehen-Lassen, das Erfahren neu interpretierter Dimensionen - und das ist schon in Ordnung so, weil auch die Dombaumeister zu ihrer Zeit genau gewusst haben, mit welchen neuen Kniffen und nie dagewesenen Raumspektakeln ihre Kunden zu beeindrucken waren.

Die Schau der irakisch-britischen Architektur-Ausnahmeerscheinung Zaha Hadid und ihres Büropartners Patrik Schumacher, das sei vorweggenommen, ist gut geworden. Sie ist reichhaltig, vielfältig, sie bringt die wohl prominentesten Neudenker der planenden Zunft an einem Ort zusammen.

Latente Utopien zeigt die Arbeiten einer ganz bestimmten kleinen, kräftigen - nicht zuletzt auch kräftig medial unterstützten - weltweit angesiedelten, sich untereinander austauschenden Architekturtruppe endlich auch in Österreich. Doch neu, das darf bemerkt werden, ist hier kaum etwas. Aufmerksame Biennale-Besucher kennen nicht nur die Architektennamen, sondern auch diverse hier gezeigte Arbeiten, und wer Archilab in Orleans, die europäische Mutter aller solcher Veranstaltungen, besucht hat, hat eigentlich all dies bereits in verschiedenen Abwandlungen gesehen.

Der selbe Architekturtroß zieht von Land zu Land, von Ausstellung zu Ausstellung, trotzdem: Vor allem interessierte Laien werden hier einen Eindruck nach Hause in ihre geraden vier Wände mitnehmen dürfen, was Architektur auch sein kann, vielleicht einmal sein wird: Nämlich ein gekonnter Mix aus Kunst, Wissenschaft, neuer Technologie, neuer Wahrnehmungsphilosophie. Was will man mehr? Vielleicht einen neuen Titel für das Geschehen? Architunst oder Kunstitektur?

Irgendwann einmal, zwischen den Spektakeln, beginnt man sich allerdings zu fragen: Was, um Gottes Willen, denken sie eigentlich neu, diese Architekturcouturiers? Was wollen die wendigen Morpher und Computerkomponierer überhaupt? Und was wollen sie uns mit ihren aufregenden Rauminstallationen und angeblich neuen Formen eigentlich sagen?

Die Rauminterventionen deuten jedenfalls an, was wie neu gedacht werden kann. Sie zeigen auf, wie mit Material, Technik, Idee experimentiert wird, wie man mit primitiven Spiegeln und Lichtern ganz überraschende Raumeffekte erzielt, wie sich die verschiedenen Diszipline mehr oder weniger elegant zu einem Schaukabinett vermischen, und wie sie da drinnen miteinander spielen. Auch das ist letztlich keine neue Erfindung, sondern die transformierte Idee der Idee, allerdings zeitgenössisch umgesetzt, und damit haben wir ihn schon, den so genannten Fortschritt.

Als Brunelleschis revolutionärer Dom zu Florenz Anno Domini 1436 eingeweiht und mit himmlischen Spektakeln den Irdischen übergeben wurde, komponierte Guilleaume Dufay eine vielstimmige Motette („nuper rosarum flores“) zur klanglichen Untermalung dieses Ereignisses. Er transponierte dafür die Proportionen des Domes in das Medium Musik, eine damals hochmoderne Angelegenheit.

Die bis zu 16-stimmigen Chöre und Kanons der Renaissance sind architektonisch komponierte Meisterwerke, sie weben nach strengen mathematischen - freilich schon da gewesenen - Formeln und Proportionen überirdische Klangkörper, lassen sie in Türme und Erker auslaufen, malen klangliche Architekturen in den erlauschten Raum: Man hört sozusagen fast das Licht über die Emporen bis zu den Kirchenbänken hinabrieseln. Letztere gab es natürlich zu Brunelleschis Zeit noch gar nicht - auch sie waren später einmal architektonische Avantgarde in alter Architektur, womit bewiesen sei, dass alles nur eine Frage des Selbstverständnisses der jeweiligen Zeit ist.

Die Herbst-Ausstellung feiert letztlich den gleichen Triumph der Utopie, der etwas besingt, was da ist. Gezeigt wird allerdings mehr der Gesang, als das gepriesene Produkt, doch auch dagegen gibt es nicht das Geringste einzuwenden.

Es ist ein wenig zur Mode geworden, die Utopisten der Architektur zu geißeln, ihnen die Existenzberechtigung angesichts der mannigfaltigen scheinbar handfesteren Bauaufgaben dort draußen in der freien Stadtnatur abzusprechen. Doch dieses mag kurzsichtig gedacht sein. Kurator Patrik Schumacher hat auf solche Gegenstimmen die wahrscheinlich richtige Antwort: Es sei notwendig, eine Vielzahl von kreativen Köpfen rauchen zu lassen, um dann aus einer kritischen Masse neuer Ideen diejenigen Entwürfe herausfiltern zu können, die tatsächlich Anwendung in der gebauten, soliden, dreidimensionalen Architektur finden werden.

Und auch damit geizt die Ausstellung nicht. Da wäre zum Beispiel Lars Spuybroeks (NOX Architekten) Konzerthalle und Ausstellungszentrum für Lille (geplante Eröffnung 2004) zu erwähnen, eine sanft geschwungene, mit der Topographie spielende Angelegenheit, die, dem Modell nach zu schließen, ein schönes, nicht zu unruhiges und trotzdem aufregendes Haus werden dürfte. Der Computer hat beim Entwurf eine tragende Rolle gespielt. Da gibt es das via Computer hochgetunte Musée des Confluences in Nantes von Coop Himmelb(l)au, das ebenfalls gebaut werden soll und hier in Form eines großen Modells genau studiert werden kann. Die Architekten haben, um das Raumerleben darinnen zu simulieren, eine kleine rotierende Kamera eingebaut: Ihre Bilder werden auf Leinwände projiziert und vermitteln einen virtuellen Spaziergang durch eine Architektur der Zukunft.

Apropos Leinwand, heute gerne „Screen“ genannt: Des Flirrens scheint in den Latenten Utopien kein Ende sein zu wollen. Fast jeder der Teilnehmer lässt die Pixel und Farbpünktchen fliegen, dass es eine helle Freude ist. Die holländische Gruppe MVRDV, ebenfalls recht kräftig im realen Architekturgeschäft unterwegs, zeigt mittels Projektion aber Handfestes, nämlich die städtebaulichen Planspiele, die ihre selbst entwickelte Software zu errechnen imstande ist. Parameter wie Bevölkerungsdichte oder Mindestbelichtung stecken gewisse Rahmen ab, in denen sich das Gebaute zu bewegen hat: Hier wird angesichts der städtebaulichen Probleme allerorten ein intelligenter Weg in eine neue Planungszukunft eingeschlagen.

Der Computer ist nur das Produkt des Mediums Mensch, ein raffinierteres Werkzeug, vielleicht eine Art Steinmetzmeißel der Gegenwart. Wo er in Blitzesschnelle errechnet, was viele Menschen an dicht besiedelten Orten brauchen, wird die Sache spannend. Wo er eingesetzt wird, um lediglich irgendwelche scheinbar neuen Formen aus altem Material wie Styropor oder Holz zu schnitzen, geht die Spielerei leicht in Belanglosigkeit über. Der Amerikaner Greg Lynn, einer der Computerarchitekturpioniere, ist jedenfalls eine solche Enttäuschung. Seine gemorphten Teekannen für Alessi sind der evolutionär vertrottelte Pfauenradschlag der Architektur. Auch das Morphing von den ebenfalls an der Westküste Amerikas beheimateten Asymptote wird langsam wirklich fad. Viel spannender entwerfen da die Studenten der Designabteilung der renommierten Londoner AA.

Sie haben räumliche Modelle entwickelt, mit Sensoren im Ausstellungsboden verknüpft, sodass die sich je nach Besucherstrom bewegen, verwerfen, Wellen schlagen. Ideen wie diese sind auch nicht ganz taufrisch, aber hier handfest angewendet. Die graue Theorie beginnt sich zu färben, Produktentwicklungen wie diese könnten tatsächlich Niederschlag in der wirklichen Welt haben.

Während ein paar poetischere Installationen wie etwa UN-Studios holographische Simulation eines Bürotages im Architektenleben eher dem Reiche der netten Belanglosigkeiten zuzuordnen ist, lässt Reiser & Umemotos Magnetfeld-Inszenierung ein paar interessante Interpretationsmöglichkeiten zu. Hier wird anhand kleiner beweglicher und fluoreszierender Stäbchen - in ameisenhaften Massen in einer schwarzen, lichtlosen Box mittels unsichtbarer Fäden aufgehängt - aufgezeigt, dass Raum nicht nur Hülle sondern auch Inhalt ist. Die Stäbchen drehen und orientieren sich nach elektromagnetischen Feldern und erzeugen so ständig neue Raumkörper.

Zaha Hadid selbst hat sich auch etwas Vielschichtiges ausgedacht, indem sie ein gesamtes Appartement aufgedröselt an die Wand geklebt hat. Bett, Wohnzimmer, Küche, Bad - alles da, alles in Hadidscher Lässigkeit mit wenig Intervention aber dynamischer Wirkung hingeklescht.

Dass dieses den Raum und die Funktion völlig neu Denken allerdings auch mit den allergeringsten Mitteln pfiffigst zu bewerkstelligen ist, zeigt ein schlichtes, fast gemein simples Prisma aus Stahl, das sich die Österreicher Pichler & Traupmann ausgedacht haben: Dieses hohe, fette Ding befüllt einen Gelenksraum der Ausstellung, der eigentlich nichts anderes kann, als in drei weitere Räume zu führen. Das Prisma dreht sich behäbig um die eigene Achse, es gibt dabei hier den Weg frei, versperrt ihn dort, um nach getaner Pflicht lässig wieder zurückzufedern: Sehr schön, sehr einfach, sehr raffiniert.

Weiters zu sehen: Mehrere World-Trade-Entwürfe, etwa von Foreign Office Architects und Ocean North, eine witzige pneumatisch atmende Kunststoffinstallation von den Wienern Veech, ungeheuerliche Massen von Fernsehapparaten samt Videos und Renderings von allen möglichen Gruppen, Russel Lovegroves innenerleuchtetes, transluzentes Sitzmöbel aus Kunststoff, ein freches, zum Reinkriechen und Darin-Herumlungern aufforderndes Objekt von Propeller Z, Wien, ein durch Spiegelung sphärisch verzerrtes Glühpünktchenuniversum von Softroom aus London, kunststoffbeschichtete Raumzapfen aus Styropor von the next ENTERprise, Wien, und eine Sitzlandschaft der interessanten New Yorker Kolatan/ Mac Donald.

Jeder Durchwandler der aufwendig gestalteten Räume des Joanneums kann also aus dem Vollen schöpfen und seine eigenen Theorien zur dieser Art von Architektur entwerfen. Er selbst wird zum Zentrum seiner Erlebenswelt inmitten dieser Medien, die natürlich alle nur Mittel zum Zweck sind.

Das waren die Kathedralen auch schon. Sie funktionieren immer noch, egal, ob man sie Architektur oder Kunst nennt.


[ „Latente Utopien. Experimente der Gegenwartsarchitektur“, von 26.10. bis 2.3.2003, Landesmuseum Joanneum Graz. Zur Ausstellung erscheint ein Katalog ]

[ Architekturmusik aus der Renaissance bietet etwa die empfehlenswerte, schon etwas ältere CD „Utopia triumphans“, Huelgas Ensemble unter Paul Van Nevel, Sony VIvarte 66 261, 18,99 EURO ]

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