Artikel

New Yorker Phantasien
Neue Zürcher Zeitung

Die neusten Projekte für Ground Zero

23. Dezember 2002 - Roman Hollenstein
Kaum hatte sich vor gut einem Jahr die Staubwolke über Ground Zero gelegt, da geisterten auch schon die ersten Ideen für den Wiederaufbau des World Trade Center umher. Ihnen folgten eingeladene Ideenwettbewerbe verschiedener direkt oder auch nur indirekt beteiligter Auftraggeber, die im vergangenen Herbst auf der Architekturbiennale in Venedig gezeigt und kontrovers diskutiert wurden. Am Mittwoch konnten nun in New York die mit Spannung erwarteten Resultate eines weiteren, von der Lower Manhattan Development Corporation (LMDC) unter sieben international tätigen Bürogemeinschaften ausgeschriebenen Wettbewerbs präsentiert werden (NZZ 18. 12. 02). Doch die erhoffte Klärung brachte auch diese Ausschreibung nicht - im Gegenteil. Denn was die Architekten nun ausheckten, war noch viel phantastischer und wunderbarer als alles zuvor Gesehene. Zwar hat sich die baukünstlerische Qualität der Entwürfe deutlich verbessert. Als Antwort auf den von Schrecken, Verlust und Tod geprägten Ort aber wirken die exzentrischen Vorschläge doch etwas gar euphorisch. Da legte das Team Eisenman, Gwathmey, Holl und Meier ein gigantisches Raumraster, Daniel Libeskind ein gezacktes, auf die Freiheitsstatue anspielendes Hoffnungszeichen und Norman Foster sowie das Think Team von Rafael Viñoly kristalline Zwillingstürme vor, während sich die United Architects (Greg Lynn, Ben van Berkel usw.) gleich fünf miteinander tanzende Himmelsstürmer aus Glas erdachten. Dieses zweifellos faszinierendste Projekt würde New Yorks Skyline das Aussehen einer Star-Wars-Metropole verleihen, doch solche Science-Fiction-Architektur passt eher an den Pazifik nach Los Angeles, Tokio oder Schanghai. Ground Zero ist wohl kaum der richtige Ort, um eine neue Runde des architektonischen Höhenrausches einzuläuten, auch wenn der Wunsch der Stadt, sich baulich zu erneuern, verständlich ist. Sogar die «New York Times», die ja vor einigen Monaten selbst Architekten um Projekte für Ground Zero gebeten hatte, hält die Entwürfe für unrealisierbar. Jetzt bleibt abzuwarten, was die LMDC mit dieser geballten Ladung an architektonischer Kreativität machen wird. Bis Ende Januar will sie aus den eingereichten Arbeiten einen eigenen Masterplan destillieren. Man darf gespannt sein.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: