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Imperial und monumental
Neue Zürcher Zeitung

Neu-Delhi als Werk des Architekten Edwin Lutyens

13. Februar 2003 - Robert Kaltenbrunner
Wenn ein Vordenker der architektonischen Moderne ein Spätwerk des Historismus lobt, so ist das aller Aufmerksamkeit wert: Kein Geringerer als Le Corbusier urteilte über Neu-Delhi, dass diese Stadt von Edwin Lutyens mit ausserordentlicher Sorgfalt, grossem Talent und wirklichem Erfolg geschaffen worden sei. Gleichwohl hat die Neugründung in den Lehrbüchern und Kompendien der jüngeren Architekturgeschichte höchstens am Rand Beachtung gefunden. Dieses Defizit versucht nun Andreas Volwahsen mit einer materialreichen Studie auszugleichen.

Von König George V. dazu auserkoren, Kalkutta als Hauptstadt Britisch-Indiens zu ersetzen, wurde Neu-Delhi zwischen 1912 und 1931 konzipiert und gebaut. Die Leitvorstellungen für die Kapitale des Raj waren insbesondere von drei Vorbildern geprägt: Baron Haussmanns Umbau von Paris, Christopher Wrens Plan für London 1666 und Pierre Charles L'Enfants Entwurf für Washington. Die Stadtanlage von Neu-Delhi besteht aus einem orthogonalen und einem hexagonalen System von breiten Boulevards, mit den wichtigsten Gebäuden an den Schnittpunkten. Ihr Zentrum ist durch das Haus des Vizekönigs markiert. Mit diesem Bauwerk wandte sich Lutyens vom neogeorgianischen und palladianischen Stil ab und einer wahrhaft römischen Dimension zu, bezog zugleich aber Reminiszenzen aus der architektonischen Vergangenheit Indiens behutsam mit ein. Vom Haus des Vizekönigs - flankiert von den sogenannten Sekretariaten, die Herbert Baker, Lutyens grosser Gegenspieler, mit gewaltigen Säulenportiken ausstattete - führt die zentrale Achse über die Jaipur-Column bis hin zum All India War Memorial Arch, der heute Gate of India genannt wird. Etwas exzentrisch dazu wurde das gewaltige Rund des Legislative Building placiert. Dieses Kreismotiv schliesslich findet am Connaught Place, der als neues Geschäftszentrum neben der historischen Altstadt und dem repräsentativen Regierungsbezirk einen dritten Pol bildet, im Entwurf von Robert Tor Russell eine plausible Wiederholung.

Axialität, Symmetrie und schiere Grösse sind kennzeichnend für diesen Plan, gelten indes nur für die Regierungsbauten und die kolossale Achse des Empire. Alle anderen städtischen Funktionen wurden zweckmässig und unprätentiös um diese Symbole arrangiert, wobei gerade der dem Pragmatismus geschuldete Massstabsprung die stadträumliche Wirkung noch erhöht. Dispersion und Weitläufigkeit, die Bedeutung von Parks, Grün- und Freiflächen: Sie verweisen auf eine weitere Tradition, und zwar eine mit reformatorischem Inhalt. Denn Lutyens war als Architekt mit Raymond Unwin in der Hampstead Garden City tätig gewesen und mit den Idealen Ebenezer Howards vertraut. Hier, in fremder Umgebung und bisher ungeahnter Grössenordnung, schuf er - einerseits dem klassischen Kanon der europäischen Baugeschichte verpflichtet, andererseits die Mogul- Stadt Fatehpur Sikri wenn nicht als einzige, so doch als zentrale indigene Architektur Indiens anerkennend - etwas Neues: ein Gesamtkunstwerk, amalgamiert aus unterschiedlichen Vorbildern, eklektisch und monumental, aber doch eine Eigenständigkeit und Alltagstauglichkeit erreichend, die nachgerade erstaunt.

Von Volwahsen werden ausführlich vorgestellt: die Protagonisten; der Entscheidungsprozess; die Tragweite der städtebaulichen Aufgabe; die wichtigsten Einzelbauten von Lutyens, Baker und Russell in Skizzen, Grundrissen, Aquarellen, Fotos; der diesen Bauwerken zugrunde liegende Symbolismus; und schliesslich die Einordnung des Unternehmens in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext. Herausgekommen ist ein Buch, dessen opulente Ausstattung, stimmiger Aufbau, profunde Quellenlage und flüssiger Stil es zu einem Gewinn in der Historiographie des Städtebaus machen.


[ Andreas Volwahsen: Imperial Delhi. The British Capital of the Indian Empire. Englisch. Prestel-Verlag, München 2002. 304 S., 310 Abb., Fr. 125.-. ]

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