Artikel

Rigoroser Rationalismus
Neue Zürcher Zeitung

Zum 70. Geburtstag des Tessiner Architekten Livio Vacchini

27. Februar 2003 - Roman Hollenstein
Das Postgebäude an der Piazza Grande von Locarno und die im Entstehen begriffene Galleria Luini in der nahen Neustadt zählen zu den provokativsten und irritierendsten Werken der neusten Schweizer Architektur. Umso mehr erstaunen mag es daher, dass diese unkonventionellen Bauten von einem Architekten stammen, der das Pensionsalter bereits erreicht hat: Livio Vacchini, der heute seinen 70. Geburtstag feiern kann, ist zweifellos der jugendlichste und unbequemste unter den zu internationalem Ruhm gelangten Tessiner Baukünstlern. Doch will er mit seinen Häusern weniger anecken als vielmehr den architektonischen Mainstream hinterfragen - und dies so konsequent, dass kaum jemand die Bauten, die Vacchini in den vergangenen Jahrzehnten realisierte, als lieblich oder leicht zugänglich bezeichnen wird. Selbst die auf den ersten Blick malerische Casa Rezzonico in Vogorno im Verzascatal (1985) erweist sich als hartes Schwarzbrot, verglichen mit den materialverliebten Bauten der trendigen Deutschschweizer. Denn nicht das photogene Detail, auch nicht der schöne Werkstoff interessieren Vacchini. Im Zentrum seines Schaffens steht vielmehr das Streben nach grösstmöglicher formaler und räumlicher Reduktion.

Nach seinem Studium an der ETH Zürich sowie nach Lehrjahren in Stockholm und Paris tat Vacchini sich vorübergehend mit Luigi Snozzi zusammen. Aus dieser Teamarbeit resultierten Mitte der sechziger Jahre zwei gleichermassen von Mies van der Rohe und Arne Jacobsen inspirierte Bauten, bei denen die Transparenz eine wichtige Rolle spielte: ein Wohnblock in Locarno und das Bürohaus Fabrizia in Bellinzona. Während Snozzi danach das Potenzial einer kontextuellen, sorgfältig aus den Begebenheiten des jeweiligen Ortes entwickelten Betonarchitektur auslotete, erforschte Vacchini die Möglichkeiten eines moderat postmodernen Rationalismus. Daraus resultierten die als Hofanlage konzipierte Saleggi-Schule in Locarno, die im Kern bereits sein späteres Schaffen erahnen liess, und eine Ikone der neuen Tessiner Architektur, der 1975 vollendete Palazzo Macconi in Lugano. Seine bildhafteste Ausformung fand dieser rationale Klassizismus 1984 aber in den symmetrischen Marmorfluchten und Säulenhallen des Schulhauses von Montagnola.


Logik und Poesie

Obwohl die kurz darauf vollendete Casa Alfredo in Dietlikon bei Zürich und das tischförmig angelegte Atelierhaus in Locarno die Hinwendung zu einer kompromisslosen Abstraktion ankündigten, fand Vacchini auf der Suche nach der Essenz des Bauens - während deren das Wohnhaus an der Rue Albert in Paris und die Architekturschule von Nancy entstanden - erst nach einer kreativen Krise zur grossartigen Miniatur der Casa Vacchini in Contra. In diesem kleinen, inmitten von Olivenbäumen hoch über dem Lago Maggiore gelegenen Meisterwerk manifestiert sich Vacchinis Ideal von Logik und Poesie. Mies'sche Einfachheit und Kahns Ausgewogenheit, die in der Aussenform, in der Konstruktion (ein Dach auf zweimal drei Pfeilern) sowie in der Aufteilung in dienende und bediente Räume zur Geltung kommen, vereinen sich hier mit der Tradition des stirnseitig aus dem Hang hervortretenden Tessinerhauses gleichsam zur Erhärtung von Vacchinis Einsicht, dass man, um modern zu sein, die Vergangenheit nicht opfern muss.

Seither kann jeder Bau als eine neue architektonische Recherche verstanden werden, die den Betrachter bald fasziniert, bald ratlos lässt. So antwortete dem in der Landschaft ruhenden Betonhaus in Contra 1996 der minimalistische, zum modisch-jungen Architekturtraktat verdichtete Monolith des verspiegelten Postgebäudes von Locarno, bei dem Vacchini die Tektonik und Geschossigkeit zugunsten einer unterkühlten Anonymität so weit verunklärte, dass die Erdenschwere wie aufgehoben scheint. Nicht weniger auf sich selbst bezogen als dieses rigoros ins historische Stadtbild eingepflanzte Gebäude war der im Jahr darauf eingeweihte Mehrzweckbau in der Einsamkeit des Waffenplatzes von Losone. Im Inneren der Pfeilerhalle, die in ihren harmonischen Proportionen und ihrer Entrücktheit an archaische Tempel erinnert, verwirklichte der Architekt seine platonische Vision eines stützenlosen Glasschreins. Diesem quasisakralen Raumgebilde folgte kurz darauf das kirchenartige Servicecenter von Locarno, mit dem Vacchini bewies, dass auch Nutzbauten eine Aura haben können.


Lob und Kritik

In der Rezeption von Vacchinis Œuvre liegen überschwängliches Lob und ätzende Kritik stets nah beisammen: Wurde die Pfeilerhalle von Losone als Meisterwerk eines gleichermassen zeitgenössischen wie zeitlosen Rationalismus gefeiert, so stiess das Locarneser Postgebäude fast nur auf Unverständnis. Doch sollte sich gerade hier Vacchinis Zuversicht in die klärend wirkende Zeit bewahrheiten. Von dieser profitierte auch die zum Präsentationsteller des Castelgrande umgestaltete Piazza del Sole in Bellinzona. Mit ihren keilförmigen, entfernt an prähistorische Skulpturen gemahnenden Abgängen zur Tiefgarage und dem Spiel von Beton und Granit ist sie in wenigen Jahren zu einem festen Bestandteil im Weichbild der Burgenstadt geworden. Erneut auf Widerspruch stossen dürfte die Galleria Luini in Locarno, die Vacchini mit seiner Partnerin Silvia Gmür, mit der er seit 1995 zusammenarbeitet, entworfen hat. Die anthrazitfarbene Rasterfassade, die nur auf acht mittig angeordneten Betonpfeilern ruht, scheint - ganz ähnlich wie das Postgebäude - zu schweben. Hinter dieser dunklen Hülle, in der sich Transparenz und Verschleierung die Waage halten, verbergen sich zwei Längsbauten, die durch eine offene, in Nord-Süd- Richtung verlaufende Galerie getrennt sind. Aufgrund der Massstabslosigkeit des die wahren Dimensionen verwischenden Fassadengitters ordnet das Auge jedem Rasterfeld eine Etage zu, womit die grossstädtischen Allüren der in Wirklichkeit nur sechsgeschossigen Konstruktion noch stolzer in Erscheinung treten.

Auch wenn Vacchini - anders als beispielsweise Botta - keine Markenzeichen schafft, so prägt doch eine der klassischen Überlieferung verpflichtete Rationalität jeden seiner Bauten. Wer deren konstruktive Schönheit und deren Proportionen verstehen will, kommt nicht um die Publikationspläne herum, die man leicht für konkrete Kunstwerke halten kann. Die meisten dieser formvollendeten Entwürfe konnte Vacchini in den vergangenen Jahren baulich auch umsetzen. Allein, bei seinem 1997 preisgekrönten Wettbewerbsprojekt für eine neue Synagoge in Dresden blieb ihm dies versagt. Anders als der Jury war der Bauherrschaft der nüchterne, von jeglicher Sentimentalität freie Entwurf, in dem eine auf Theorie und Vernunft basierende Architektur triumphiert, zu radikal. Doch Vacchini, der Philosoph unter den Tessiner Baukünstlern, liess sich durch diesen Rückschlag nicht entmutigen. So dürfen alle, denen Architektur etwas bedeutet, hoffen, dass er noch viele aneckende Gebäude planen wird, die den Städten Kanten geben und den kritischen Geist ihrer Bewohner schärfen.

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