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Kontrast als Antrieb
Neue Zürcher Zeitung

Leipzigs Industriedenkmäler als Herausforderung

Im Jahre 1989 gab es in Leipzig noch 120 000 Industriearbeitsplätze; heute liegt die Zahl bei rund 14 000. Entsprechend dramatisch sind die Leerstände in den Industriebauten der Stadt, die zu beträchtlichem Teil unter Denkmalschutz stehen. Lassen sie sich retten? Architekten und Investoren stehen hier vor einer wirtschaftlichen, ästhetischen und urbanistischen Herausforderung von faszinierenden Dimensionen.

17. März 2003 - Ursula Seibold-Bultmann
Wer sich für Leipzig interessiert, darf auf Belohnung zählen. So im Stadtteil Gohlis, wo man mit etwas Glück vom Trottoir weg eingeladen wird, die Villa von Adolf Bleichert (1845-1901) anzusehen - einem der grossen Fabrikanten der deutschen Gründerzeit, der seine Drahtseilbahnen bis nach Japan exportierte und dessen Firma unter seinen Nachfolgern in den dreissiger Jahren nicht nur die Säntis- und die Zugspitzbahn, sondern auch ein zweisitziges Elektro- Cabriolet baute. An Pförtnerloge, Stuck und Marmorfeldern vorbei gelangt man ins einstige Schlafzimmer des Hauses, wo die Wellenformen der alten Einbauschränke bis heute den Blick beherrschen. So also träumte Hilda Bleichert vom irdischen Glück? Aus ist der Traum in dem Moment, in dem man den Balkon betritt. Gegenüber liegt das, was von der Fabrik ihres Mannes noch übrig ist: leere Werkhallen, zersplittertes Fensterglas und abgebrochene Schneegitter, die über lose Regenrinnen ragen. Der verbaute Innenhof lässt eine neue industrielle Nutzung schwer vorstellen. Vermietet ist nur das frühere Direktionsgebäude: Büros neben der nicht ungefährlichen Brache, die - für Leipzig typisch - mitten in einem Wohngebiet liegt.


Sichtbare Geschichte

Was spricht für den Erhalt des kaiserzeitlichen Ensembles - in einer Stadt, wo 760 000 Quadratmeter Gewerbe- und Büroraum leer stehen? Erstens die Prägnanz der von bekannten Leipziger Architekten wie Max Bösenberg und Richard Welz errichteten Gebäude, zweitens die Bedeutung der Firma Adolf Bleichert & Co. für die Geschichte von Wirtschaft und Technik. Gründete sich doch Leipzigs Ruf als Industriestadt im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht nur auf die graphischen Gewerbebetriebe, die den grossen Buchverlagen wie Reclam oder Seemann zuarbeiteten, sondern ebenso auf den Maschinenbau, für den es vor Ort gute Voraussetzungen gab. So profitierte Bleichert unmittelbar vom Braunkohlentagebau des Südleipziger Raumes, und eine Erfindung wie die der sogenannten Automatkupplung für Drahtseilbahnen durch seinen Schwager Karl Streitzig erwies obendrein den innovatorischen Elan sächsischer Ingenieure. Die Redaktoren des «Gohlis-Forums», das vom dortigen Bürgerverein herausgegeben wird, betonen das dritte und wichtigste Argument für eine Erhaltung der Fabrik: Während mehr als hundert Jahren hat sie - 1946 zu einer sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) und später zum volkseigenen Betrieb (VEB) umgewandelt - dem gesamten Stadtviertel Gesicht und soziale Identität gegeben. Risse man die Bauten ab, verlöre das Viertel die sichtbare Verankerung in seiner Geschichte.

Schräg gegenüber dem Bleichert-Areal, an der Ecke Virchow- und Benedixstrasse, ist ein kleineres Stück historischen Bodens inzwischen gesichert. Das sauber gegliederte und mit Zierelementen wie dem Haupte Merkurs belebte Jugendstilgebäude der ehemaligen Aromafabrik Oehme & Baier (1912, Architekt: Paul Augustin), die noch zu DDR-Zeiten als «VEB Aromatic» ganz Gohlis mit dem Geruch künstlicher Vanille beglückte, wurde in den Jahren 1998 bis 2000 zusammen mit einem älteren Ostflügel zum Wohn- und Pflegeheim umgebaut. Ein schöner, obwohl bescheidener Erfolg - doch meistert Leipzig auch Aufgaben völlig anderen Umfangs. So ist es im Südwesten der Stadt geglückt, mit den früheren Buntgarnwerken an der Nonnenstrasse (Architekten: Ottomar Jummel 1878/79; Pfeifer & Franke bzw. Händel & Franke 1889-1922) eines der grössten Industriedenkmäler Deutschlands instand zu setzen. 5,5 Hektaren Grundstücksfläche, 435 000 Kubikmeter umbauter Raum vor der Umnutzung, 19 535 Quadratmeter Nettogeschossfläche nach der Sanierung allein in einem der vier gewaltigen, vier- bis fünfgeschossigen Hochbauten am Ufer der Weissen Elster: Die Zahlen sprechen für sich. Steht man in stolzer Höhe auf der Brücke, die den Hochbau Süd auf der Ebene des dritten Geschosses über den Fluss hinweg mit dem Hochbau West verbindet und die als umschlossener Raum heute in eine exklusive Wohn-Arbeits-Einheit integriert ist, sieht man Leipzigs Innenstadt ganz klein am Horizont.


Unternehmerische Visionen

Im Stadtteil Plagwitz, an dessen Ostrand die Buntgarnwerke liegen, ist man stolz auf den Genius Loci: Um uns herum liegt das älteste planmässig konzipierte Industrieviertel Deutschlands. Der Leipziger Rechtsanwalt Karl Heine begann hier Anfang der 1850er Jahre mit dem systematischen Erwerb geeigneter Grundstücke, legte ein Strassen- und Schienennetz an und koordinierte die Ansiedlung einander ergänzender Industriebranchen. Der 1873 eröffnete Bahnhof Plagwitz-Lindenau war der erste Industriebahnhof Europas - aber damit nicht genug, begann doch Heine überdies mit dem Aushub des nach ihm benannten Kanals, der Leipzig über die Saale und die Elbe mit dem Hamburger Hafen verbinden sollte. Obwohl das Projekt schliesslich stecken blieb, leisteten die verwirklichten Abschnitte gute Dienste für den lokalen Gütertransport - ganz abgesehen davon, dass im Leipzig des 19. Jahrhunderts jeweils am Wochenende die Dampfschiffe «Columbus» und «Neptun» zu Ausflugsfahrten auf dem braungrauen Kanal einluden. Hundert Jahre später rauchte und russte Plagwitz immer noch, nunmehr als eines der grössten Industrieareale der DDR.

Und heute? Durch Schaffung günstiger Rahmenbedingungen - dazu gehören ein niedriger Gewerbesteuersatz und die Bereitstellung von Wirtschaftslotsen, die interessierte Investoren durch die Behördenschleusen dirigieren - ist die Stadt Leipzig dabei, den unternehmerischen Schwung der Vergangenheit in neue Formen überzuleiten. Die Buntgarnwerke mit ihren plakativen, von hellen Putzbändern gegliederten Backsteinfassaden sind ein gutes Beispiel dafür, wie sich das architektonische Flair der Dampfmaschinenzeit heute auszahlen kann - handelt es sich hier doch um ein Fabrikschloss, dessen Türme, Kuppeln und Wappenschilder schon von Anfang an kaum auf die wahre Zweckbestimmung des von Stahlstützen- und Stahlbetonkonstruktionen geprägten Innern schliessen liessen. Unter dem Namen «Elster-Park» firmierend, eignet sich die Anlage nun bestens als Hülle für schicke Lofts, als Heimstatt für eine venezianische Gondel und als Schutzraum für wurzelseitig beheizte Palmenbäume. Einen Teil der Wohnungen kann man schon für eine Woche mieten; das Angebot kommt besonders bei Geschäftsreisenden gut an. Läden sowie eine Post- und eine Bankfiliale machen das Ensemble, das unter anderem durch die Architekturbüros Link sowie Fuchshuber & Partner, Leipzig, geplant und umgebaut wurde, zum kompletten Quartier.

Ganz anders steht das sogenannte Stelzenhaus da, das neben der Weissenfelser Brücke den östlichen Bogen des Karl-Heine-Kanals überragt: ein architektonischer Solitär von kompromisslos strengem Erscheinungsbild, der 1937-39 von dem Architekten Hermann Böttcher als Erweiterungsbau der Verzinkerei Grohmann & Frosch errichtet wurde. Seine Lage und seine Gestalt erklären sich durch die Platznot, die zur Bauzeit auf dem Grundstück herrschte: Rüstungsaufträge werden das Verlangen nach neuem Raum bedingt haben. Auf Dutzenden von wuchtigen, einen Meter dicken Betonstützen ist das Stelzenhaus über die Kanalböschung gesetzt; selbst der Gleiskopf in seiner Mitte, der das Be- und Entladen von Güterwaggons direkt im Gebäude ermöglichte, steht weit über diese Böschung vor und verlangte beim Bau eine entsprechend robuste statische Lösung. Östlich der langen, von einem Oberlicht bekrönten ehemaligen Produktionshalle neben dem Gleiskopf schliesst sich eine ebenfalls auf Stelzen gesetzte offene Plattform an, die ursprünglich zu Lagerzwecken diente.


Echtheit statt schöner Schein

«Beim Bauen in Plagwitz muss es um die Tiefe historischer Erinnerung gehen - um Authentizität also und nicht um Hochglanzbilder», sagt Gunnar Volkmann, dessen Architekturbüro Weis & Volkmann Ende 2000 mit der Planung für Umbau und Sanierung des Stelzenhauses begann und nun ebenso wie der Bauherr - die Gesellschaft SKS Projektentwicklung - hier seinen Hauptsitz hat. 15 000 Tonnen Zinkstaub, deren Druck manche der mächtigen Betonstelzen schon beschädigt hatte, mussten vor Beginn der Bauarbeiten unter dem Gebäude weggeräumt werden. Das dauerte rund eineinhalb Jahre und verschlang einschliesslich vollständiger Dekontaminierung 1,5 Millionen Mark, die fast zur Gänze aus Fördergeldern flossen. Die heutige Gestalt - in diesen Tagen wird der Umbau abgeschlossen - ist auf Mischnutzung angelegt: ein Fünftel Wohnungen, drei Fünftel Büros, ein Fünftel Gastronomie. Sämtliche Einheiten sind bereits vergeben. Die Baukosten betrugen insgesamt rund 3,5 Millionen Euro; Fördermittel kamen unter anderem vom Land Sachsen und von der Deutschen Stiftung Denkmalschutz.

Der erfolgreiche Umbau des Stelzenhauses verdankt sich nicht zuletzt der Flexibilität der städtischen Denkmalschutzbehörde. Diese genehmigte zum Beispiel eine Vergrösserung der Fenster im Nordflügel, wodurch die heutige Wohnnutzung erst attraktiv wurde; ebenso erlaubte sie das Einfügen eines gläsernen Kastens zwischen die Stelzen unter der Lagerplattform, der nun ein rund 250 Quadratmeter grosses Restaurant beherbergt. Und auch die neuen Büros in der einstigen Produktionshalle erhielten ein Untergeschoss aus Glas, durch das die Lichtreflexe von der Kanaloberfläche spielen. Aus ästhetischen und ökologischen Gründen verwendeten die Architekten beim Umbau Fundstücke vom Grundstück: So gleitet in ihrem eigenen Büro die ehemalige Feuerleiter aus dem Gleiskopf vor dem Aktenregal hin und her, und eine rostige Metalltür aus dem Keller verschliesst den Sitzungsraum. Der Dielenboden aus rohem Holz und das Restaurant im langgestreckten Glaskasten lassen den Bau im weiteren Umkreis der Tate Modern von Herzog & de Meuron verorten: Volkmann, der unter anderem an der ETH in Zürich studiert hat, schätzt die neue Schweizer Architektur.


Ruf nach Orientierungsgrössen

Ebenso schätzt Volkmann das inspirierende Umfeld in Plagwitz: ein Ort voller Brüche, wo Leere und Fülle ineinander greifen. «Zugang zum Nebelraum» versprechen raue Buchstaben auf einer rosa Schuppentür inmitten von Rost und Resten. Hundert Meter weiter liegt ein Baudenkmal ersten Ranges - die Konsumzentrale (1929-33) von Fritz Höger. Dass Högers Entwurf für diesen grossen Verwaltungs-, Lager- und Produktionsbau bei den Direktoren der Konsumgenossenschaft so gut ankam, hatte mit Karl Heines Vision der direkten Kanalroute nach Hamburg zu tun. Linienführung und Details - die Bullaugenfenster im Lagertrakt, die dem Schiffsbau entlehnten Treppengeländer - machen den Bau zum gestrandeten Ozeandampfer. Das bis zur Decke mit türkisblauen Wandfliesen ausgekleidete Haupttreppenhaus gaukelt dem Besucher einen Blick auf die Südsee vor, während die Klinkermuster entlang der Nebentreppe an Högers legendäres Chilehaus in Hamburg erinnern. In den Fenstern der Strassenfassade sind seine spektakulären Schüsselscheiben und in den Chefzimmern seine Wurzelholzpaneele erhalten, an den Türen seine Klinken und im kleinen Festsaal die originale Telefonzelle samt braunlederner Schalldämpfung: eine Zeitreise, für die es noch ein paar Tickets gibt. Sie sehen aus wie Mietverträge.

Im Jahr 2000 war das im Bombenkrieg nur wenig beschädigte Plagwitz ein externes Expo- Projekt. Die einzelnen Sanierungsmassnahmen sind in ein umfassendes planerisches Konzept für das Viertel eingebettet. So existiert bereits ein Stadtteilpark sowie ein Fahrradweg am Kanal (wer will, kann hier vom Velo auf das Tretboot umsteigen). Hinzu kommt eine dichte Ausschilderung von industriegeschichtlich Sehenswertem. Von der Konsumzentrale führt diese «Route Plagwitz» zum Beispiel zur einstigen Maschinenfabrik Unruh & Liebig in der Naumburger Strasse 28, die 1896 vom Architekten Robert Röthig erbaut wurde. Heute ist sie ein Gewerbehof mit Raum für mehr als 50 Vertriebsbüros und Kleinunternehmer, deren Palette vom Graphikdesigner bis zum Klavierstimmer reicht. Will man die Qualität der Plagwitzer Sanierungen im Überblick werten, so kann man von einem baukünstlerischen Anspruch nur beim Stelzenhaus sprechen. Andere Projekte sind sauber und funktional, stellenweise aber auch hart und schematisch gelöst; die schicke Lifestyle-Ästhetik bei Lofts, wie man sie im Hochbau West der Buntgarnwerke findet, punktet in ihrer eigenen Kategorie.


Aufwertung durch neue Architektur

Was sich Norbert Baron - Leiter der Abteilung Denkmalpflege im Amt für Bauordnung der Stadt - für Leipzig am meisten wünscht? «Erstklassige neue Architektur.» Und warum sagt das ausgerechnet ein Denkmalpfleger? Weil gute zeitgenössische Bauten die Energien ungeordneter Umfelder bündeln. Weil sie visuelle Kontraste schaffen, die der Mustervielfalt kaiserzeitlicher Backsteinwände und dem Schwung schlanker Jugendstilranken einen Halt in der Gegenwart geben. Und last, not least, weil sie Anreize dafür bieten können, das Bauen im Bestand - also Sanierungen, Umbauten, Ergänzungen - mit mehr Phantasie und geistigem Aufwand zu betreiben, als es an vielen deutschen Architekturfakultäten gelehrt werde. Übrigens, für Industriedenkmäler brauche es eine breitere Nutzungspalette: Bloss teure Lofts und Kleingewerbe und Tangoschulen, das reiche nicht angesichts der vielfältigen Probleme, vor denen man steht. Der Mitteldeutsche Rundfunk ging schon mit gutem Beispiel voran: Seine Zentrale befindet sich seit 1992 im alten Schlachthof in der Kantstrasse.

Leipzig mit seinen Leerstellen, seinen verlassenen Fabrikstrassen und sozialen Verwerfungen ist eine Stadt, wo die Zwischenräume zwischen den Inseln kommerzieller Normalität so weit klaffen, dass sie nicht wie sonst in Westeuropa aus der Wahrnehmung ausgeblendet werden können. Das bietet die Chance der Langsamkeit und des Nachdenkens über eine urbanistische Haltung, die nostalgische Architekturkopien und kulissenhafte Historisierung nicht nötig hat. Als mögliche Grundlage solcher Reflexion wäre ein so hellsichtiges Buch wie «The City of Collective Memory» von Christine Boyer (1996) zu nennen. Wer will, der kann sich durch Leipzig und seine Industriedenkmäler zum Entwurf federnder Bögen zwischen Vergangenheit und Zukunft anregen lassen.


[Kontakte: Amt für Bauordnung und Denkmalpflege der Stadt Leipzig, Tel. 0049 341-1235101; Wirtschaftslotsen im Amt für Wirtschaftsförderung der Stadt, Tel. 0049 341-1235885, E-Mail: wirtschaft@leipzig.de.

Dr. Ursula Seibold-Bultmann ist Kunsthistorikerin und Publizistin in Erfurt.]

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