Artikel

„Eine Höhe, die ideell nie wird übertroffen werden können“
Neue Zürcher Zeitung

Daniel Libeskind und das neue World Trade Center

7. April 2003 - Roman Hollenstein
Im Wettbewerb für den Neubau des World Trade Center in New York wurde Ende Februar das Projekt des 1946 in Polen geborenen US-Architekten Daniel Libeskind gekürt. Es sieht eine dekonstruktivistische, vom höchsten Wolkenkratzer der Welt dominierte Architekturskulptur vor, in der das Drama der einstürzenden Twin Towers und das Trauma des damit nach Amerika gebrachten Krieges verewigt scheinen. Mit Daniel Libeskind, einem Meister suggestiver Baukunst, sprach Roman Hollenstein.

Schon vor Ihrer Teilnahme am eigentlichen Wettbewerb für die Neubebauung von Ground Zero fertigten Sie auf Einladung der New Yorker Max Protetch Gallery einen mikadoartigen Entwurf für ein neues World Trade Center an. Warum beschäftigt Sie dessen Wiederaufbau so sehr? Bedeutet Ihnen Bauen in New York derart viel?

Es geht nicht nur darum, in New York zu bauen. Sie dürfen nicht vergessen, dass ich ein New Yorker bin. Ich kam als Teenager nach New York und wuchs in der Bronx auf. Ich ging in New York zur Schule und studierte dort Architektur. New York ist meine Stadt. Nach diesem schrecklichen Attentat überlegte ich, wie jeder New Yorker, was mein Beitrag sein könnte.


Widersprüchliche Anforderungen

Wie gingen Sie mit den dem Bauprojekt innewohnenden Widersprüchen zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsoptimismus, zwischen Zerstörung und Wiederaufbau, zwischen Erinnerung und kommerziellem Druck um?

Das ist genau das Problem: Wie lassen sich die Erinnerungen an das, was am 11. September den Menschen, die in den Twin Towers waren, und darüber hinaus der ganzen Welt geschah, mit einer neuen Vision verbinden? Mit einer Vision, die zeigt, dass das Leben nicht einfach so weitergeht, mit einer Vision, die in Form einer kulturellen Antwort auf die tragischen Ereignisse ein New York des 21. Jahrhunderts zu schaffen vermag: eine Stadt voller Hoffnung und Schönheit.

Nach dem Jüdischen Museum in Berlin, dem Felix-Nussbaum-Museum in Osnabrück und dem Imperial War Museum in Manchester gelten Sie gewissermassen als Mahnmalarchitekt. Wie stellen Sie sich dazu, und wie stellen Sie sich ein Mahnmal für das 21. Jahrhundert vor?

Oh, ich glaube nicht, dass ich ein Mahnmalarchitekt bin. Ich arbeite zurzeit an einem grossen Freizeit- und Einkaufszentrum in der Schweiz, einem Universitätsgebäude in London, einem Bürohaus in Denver und am grossen Umsteigebahnhof des künftigen World Trade Center in New York. Ich bin also kein Mahnmalarchitekt, aber ich beschäftige mich mit Projekten, die mit Geschichte zu tun haben - mit Geschichte, die man nicht vergessen darf. Solche Aufgaben führen zu ganz spezifischen Programmen. Bestimmt handelt es sich beim neuen World Trade Center um eine neue Art von Gedenkstätte. Daran zweifelt niemand in New York - allein schon aufgrund dessen, was hier geschehen ist. Da es sich um ein nie da gewesenes Ereignis handelt, versuche ich alles, was diesen Ort betrifft, ins Stadtganze zu integrieren, in eine lebendige Stadt, nicht in eine Stadt, die nur der Vergangenheit nachtrauert. Ich versuche, die Erinnerung an dieses Ereignis zusammenzubringen mit den demokratischen Werten und mit dem Leben in einer demokratischen Stadt. Das ist die eigentliche Herausforderung, bei der es sich um etwas ganz Neuartiges handelt.

Das zerstörte World Trade Center in New York war als Nabel der globalisierten Finanzwelt gewiss kein Ort der Unschuld. In Ihrem Projekt thematisieren Sie aber - anders als etwa die junge Architektengruppe United Architects - diese eher problematische Seite nicht, sondern glorifizieren den Ort mit einem «Park der Helden», einer «Schneise des Lichts» und den «Gärten der Welt».

Ich versuche, im Wiederaufbauprojekt alle Widersprüche und die ganze Vielschichtigkeit des Ortes zu bewältigen. Bei den Helden, die hier geehrt werden sollen, handelt es sich um ganz gewöhnliche Menschen, wie ich einer bin. Um zu verhindern, dass sie durch die Fundamentalisten der äussersten Rechten instrumentalisiert werden, muss man ihnen wahre Bedeutung verleihen.


Freiheit und Heldentum

Der in den Himmel stossende Turm erinnert formal an die emporgehaltene Fackel der Freiheitsstatue, während die Höhe von 1776 Fuss auf das Jahr der amerikanischen Unabhängigkeit verweist. Sie bringen also das neue World Trade Center mit Freiheit, Demokratie, aber auch mit Heldentum in Verbindung. Sehen Sie - ähnlich wie Präsident Bush - in diesen Werten das Gegengift zum Terrorismus, und übernehmen Sie damit dessen Einteilung der Welt in «Gut» und «Böse»?

Lower Manhattan ist ein Finanzzentrum. Wir sind hier nahe bei der Wall Street, und das World Financial Center ist Teil des Ganzen. Deshalb braucht dieser Ort einen neuen Anstoss für Kultur und Leben. Eine völlig neue Nachbarschaft soll entstehen, in der auch Familien wieder ihren Platz finden. Wichtig sind zudem stadträumliche Verbindungen zwischen dem Hudson und dem East River, zwischen Tribeca und Battery Park. Es geht darum, einen völlig anderen Ort zu denken - das Gegenteil der monolithischen, einseitigen und eingeschränkten Zustände der Vergangenheit. Wenn ich in meinem Projekt Bezug nehme auf Freiheit, Demokratie und Heldentum, so will ich damit nicht den Fundamentalisten der Rechten gefallen. Diese Ideale gehören mir. Ich liebe Amerika, ich liebe, was dieses Land verkörpert und wofür es steht. Das fühlte ich, als sich dieser Vorfall ereignete. Ich hatte nicht das Gefühl, es sei ein Angriff auf irgendjemand, es war ein Angriff auf mich.

Ihr Projekt enthält viele optimistische Symbole und Metaphern, die allerdings nicht direkt aus dessen expressiver Architektur abgeleitet werden können. Vielmehr scheint die von Ihnen bevorzugte dekonstruktivistische Architektursprache, welche die Fragmentierung der Baukörper zelebriert, den Vorgang der Zerstörung zu verewigen. Kann diese Ästhetisierung des Schreckens und der Zerstörung auf Dauer den optimistisch veranlagten New Yorkern zugemutet werden?

Das ist eine Fehldeutung meines Projekts. Ihr Vokabular bezüglich Dekonstruktivismus und Fragmentierung stimmt nicht mit meiner Sprache überein. Daher weise ich diese Art Kritik als ideologisch zurück. Ich machte einen zeitgenössischen Entwurf für eine zeitgenössische Stadt. Einen Entwurf, der die ganze Vielfalt New Yorks zusammenbringt. Schliesslich sollten wir die Komplexität dieser Stadt nicht allzu sehr vereinfachen. New York ist nicht nur eine Stadt der Wolkenkratzer. New York ist eine Stadt von enormer kultureller Bedeutung und grossem städtischem Bewusstsein. Mein Projekt illustriert dies.

Sie operieren mit Gefühlen. Es scheint, als wollten Sie mit Ihrem Projekt letztlich sogar sakrale Empfindungen wecken.

Nein, ich will keine sakralen Empfindungen wecken. Aber Architektur sollte sich nicht nur an den Verstand richten. Sie gehört allen Menschen. Daher sollte sie zu den Menschen sprechen und nicht nur eine intellektuelle Theorie abbilden. Schliesslich haben wir das 20. Jahrhundert mit all seinen Theorien erlebt und wissen, wie schlecht diese sind. Deshalb will mein Entwurf nichts anderes als auf das alltägliche Leben antworten.


Das höchste Haus der Welt

Im Zusammenhang mit Ihrem Hochhaus-Cluster sprachen Sie von «restoring the spiritual peak to the city». Aber ist es nach dem 11. September überhaupt noch sinnvoll, Hochhäuser zu bauen - zumal an diesem belasteten Ort? Oder geht es Ihnen nur darum, sich in New York zu verewigen?

Der Architekt kann gar nicht selbst entscheiden, wie hoch er bauen will. Beim Wettbewerb für das neue World Trade Center gab es ein Programm, das die Dichte der Bebauung vorgab. Es wurde allen Teilnehmern vorgelegt - also nicht von mir erfunden. Ich war mir bewusst, dass die Menschen hier nicht unbedingt wieder 110 Stockwerke hohe Türme sehen möchten. Gleichwohl setzte ich alles daran, die Skyline von New York wiederherzustellen, ihr eine neue Freiheit, einen neuen Sinn zu geben, ohne aber einen riesigen Büroturm vorzuschlagen. Deshalb schuf ich eine andere Typologie: Es handelt sich dabei um ein 541 Meter hohes Gebäude, das aber nicht mehr als 70 Stockwerke aufweist. Dies stellt meiner Meinung nach die maximale Geschosszahl dar, für die sich Investoren noch engagieren. Es wird ein Wolkenkratzer werden mit einem neuartigen Sicherheitssystem, damit sich der Albtraum nicht wiederholen kann, ein Wolkenkratzer, den wir im Griff haben und mit dem wir umgehen können. Zudem wird er mit seinen Restaurants, Plattformen, Gärten und der Antenne zu einer ebenso dramatischen wie bedeutenden Erscheinung im Weichbild von New York werden.

Ihr Wiederaufbaukonzept sieht das höchste Haus der Erde vor. Nun soll aber demnächst in Dubai ein ursprünglich für Melbourne entworfener Wolkenkratzer realisiert werden, der bedeutend höher sein wird als der von Ihnen konzipierte Turm. Könnte das für Sie Anlass sein, Ihren Turm des Rekordes wegen noch höher zu bauen und damit Ihre Zahlensymbolik aufzugeben?

Nun, ich war nie daran interessiert, einfach nur das höchste Gebäude der Welt zu realisieren. Ich wollte ein Gebäude mit einer sehr spezifischen Höhe errichten. Die Höhe von 1776 Fuss ist eine Höhe, die ideell nie wird übertroffen werden können, weil sie der Welt, weil sie Amerika und weil sie vor allem New York etwas bedeutet - und auch mir persönlich. Sie ist nicht zufällig.


Die Realisierung des Projekts

Selbst wenn Ihr Gestaltungsvorschlag realisiert werden sollte, werden Sie wohl kaum die gesamte Anlage selbst bauen können. Werden Sie versuchen, wenigstens das Memorial für sich zu sichern und so Ihren Ruf als Mahnmalarchitekt weiter zu festigen? Oder werden Sie vielmehr versuchen, einen der Bürotürme zu bauen, um nach Ihrem Shopping-Center-Projekt von Brünnen bei Bern erneut zu beweisen, dass Sie auch alltägliche Bauaufgaben bewältigen können?

Ich werde bestimmt nicht der Architekt des ganzen Komplexes sein. Vielmehr wird es internationale Wettbewerbe geben - beispielsweise für das Mahnmal. Ich bin der Architekt, der für die Matrix, für den räumlichen und urbanistischen Charakter sorgt und damit auch den Ort festlegt, wo das Mahnmal errichtet wird. Aber nicht nur als Planer, sondern auch als Architekt werde ich an der Ausführung beteiligt sein. Ich werde den grossen Umsteigebahnhof des neuen World Trade Center realisieren, einen Ort, der täglich von Hunderttausenden von Menschen benutzt werden wird. Ich denke zudem, dass ich auch der Architekt des «1776 Tower» sein werde. Diese beiden Projekte sind für mich wichtig, weil sie Teil des alltäglichen Lebens sind. Gerade an diesem Ort ist neben dem Besonderen auch das Alltägliche von grosser Bedeutung.

Man sagt, Larry Silverstein, der Pächter des World Trade Center, habe kritisch auf die Wettbewerbsergebnisse reagiert. Wenig angetan sein dürften er und andere mögliche Investoren von den vielen ebenso symbolträchtigen wie kostspieligen Aussenräumen, dem Memorial und den hängenden «Gärten der Welt», die ein Drittel des höchsten Turmes einnehmen sollen. Wer wird diese für Ihr Konzept, aber auch für die Angehörigen der Opfer so zentralen Anlagen bezahlen?

Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass das Mahnmal nicht allein für New York, den Bürgermeister oder den Gouverneur wichtig ist. Es hat seine Bedeutung für das ganze Land, ja für die ganze Welt. Man muss bedenken, dass bei den Terrorattacken auch viele Ausländer den Tod fanden, darunter sehr viele Briten. Kurz, es handelt sich hier um eine Gedenkarchitektur, für deren Finanzierung mit Sicherheit Gelder aus verschiedenen Quellen fliessen werden. Was die sechs Türme betrifft, aus denen der Komplex bestehen wird, so sind die Investoren der Ansicht, dass sie sehr vernünftig entworfen wurden. Larry Silverstein hat aktenkundig festgehalten, dass sie sehr praktisch seien, dass sie genau die Höhe hätten, die er sich vorgestellt habe, und dass er sie darum realisieren wolle. Dabei möchte ich den höchsten Turm, den «1776 Tower», unbedingt mit den «Gärten der Welt» ausstatten und mit der Antenne bekrönen. Die Antenne ist integraler Bestandteil des «1776 Tower». Man braucht die Antenne, weil die Kommunikationsanlagen bei den Terroranschlägen zerstört wurden und weil sie Geld einspielt. Denn ein Gebäude wie der «1776 Tower» ist sehr kostspielig. Dafür wird er mit seinen Bürobereichen, Gärten, Restaurants und der Antenne etwas wirklich Neues verkörpern: einen Bautyp, der ebenso pragmatisch wie praktisch ist und daher auch gebaut werden kann.

Sie wurden aufgefordert, Ihren Entwurf erneut zu überarbeiten. Was werden Sie ändern?

Beim Wettbewerb musste alles sehr schnell gehen. Nun geht es darum, das Projekt zu verfeinern - unter Berücksichtigung der Auflagen von Stadt und Port Authority. Das sorgfältige Überarbeiten gehört zur Entwicklung eines Projektes; und ich erachte das als etwas sehr Positives.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: