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Baukünstlerische Höhenwege
Neue Zürcher Zeitung

Hugh Pearman sichtet die „Weltarchitektur“ von heute

22. April 2003 - Roman Hollenstein
Das Buch ist gewichtig, zumindest bezüglich seines Umfangs: Auf über 500 Seiten und anhand von mehr als 1000 zumeist kleinen bis winzigen Farbabbildungen versucht darin der englische Architekturkritiker Hugh Pearman einen Höhenweg der «Weltarchitektur» von heute zu skizzieren. Der gewaltige Stoff, welcher 600 Bauten bekannter Architekten aus den letzten 20 Jahren umfasst, wird von Pearman in 13 Kapitel gliedert: von Kultur- und Konsumbauten über Wohn- und Bürohäuser bis hin zu Verkehrs- und Freizeitanlagen. Die Unterteilung in Gebäudekategorien erlaubt spannende Quervergleiche. Sie führt aber auch zur Vermischung der unterschiedlichsten Architektursprachen, wodurch ein chaotisches Bild entsteht, das manchen Leser irritieren dürfte. Doch damit reflektiert die Auswahl im Grunde nur jene Beliebigkeit, an der die Architektur aufgrund des seit Jahren herrschenden Pluralismus krankt - zumal die angelsächsische, welcher Pearmans besondere Aufmerksamkeit gilt.

In den Essays zu den einzelnen Kapiteln wechseln sich überzeugende und geschwätzige Partien ab. Tiefschürfende architektonische Analysen einzelner Bauten sucht man vergeblich. Dafür betont Pearman die gesellschaftlichen Bezüge und begibt sich so oft unfreiwillig auf dünnes Eis. Bei seinem Lob der von ihm «Ecoscrapers» genannten «ökologischen» Hochhäuser etwa versteigt er sich zu Prophezeiungen, die heute seltsam klingen: «Der Supertower - vielseitig verwendbar, platzsparend und in der Lage, einen immer grösseren Anteil seiner eigenen Energieversorgung selbst zu übernehmen - wird der Magnet des neuen Jahrhunderts sein.» Für die deutsche Ausgabe der bereits vor vier Jahren, also vor dem 11. September, erschienenen Publikation hätte man das letzte, den Supertürmen gewidmete Kapitel zwingend überarbeiten müssen. Die Begeisterung für das Grosse beeinträchtigt aber auch sonst diese Übersicht, manifestieren sich doch Neuerungen zunächst meist in kleineren Architekturen - und nicht in den Kommerzbauten, die hier den meisten Platz einnehmen.

Auch sonst zeigt sich, dass diese britische Sicht der Architektur kaum mit der kontinentaleuropäischen übereinstimmt. So ist hierzulande etwa die «Freizeitarchitektur» von Shopping-Malls und Themenparks bei seriösen Architekten immer noch verpönt. Auch bezüglich des «öffentlichen Raums» lassen sich Unterschiede ausmachen. Am Gravierendsten aber ist die Tatsache, dass Pearman bedeutende europäische Architekturnationen wie Holland, Österreich, Spanien und die Schweiz kaum zur Kenntnis nimmt. In Wien hält er einzig das Haas-Haus von Hans Hollein für erwähnenswert. Zu Peter Zumthors Therme in Vals findet er zwar einige kryptische Worte, hält sie aber nicht für bildwürdig, während er Botta und Calatrava geradezu monumental in Erscheinung treten lässt. Dem Redaktionsschluss der englischen Ausgabe ist es zuzuschreiben, dass Glanzlichter der Gegenwartsarchitektur wie Jean Nouvels KKL in Luzern, Rafael Moneos Kursaal in San Sebastián, der Osanbashi-Pier von Foreign Office Architects in Yokohama, die Yverdoner «Wolke» von Diller & Scofidio oder die Bauten von MVRDV fehlen, während die Tate Modern wenigstens mit einem Computerbild Eingang in dieses ambitiöse Übersichtswerk fand. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, diese Bauten mittels eines Ausblicks in die Publikation zu integrieren. So aber ist dieses widersprüchliche, aber durchaus nützliche Buch leider schon jetzt veraltet.


[Hugh Pearman: Weltarchitektur heute. Phaidon-Verlag, Berlin 2003. 511 S., 1001 Farbabb., 208 Pläne, Fr. 165.-.]

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