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Fremde Federn
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur für die Touristenmetropole Innsbruck

Die Fremdenverkehrsstadt Innsbruck galt lange Zeit als architektonisch konservativ. Seit einigen Jahren werden nun aber - oft gegen heftigen Widerstand - zeitgenössische Interventionen in der Innenstadt durchgeführt. Am auffälligsten sind drei vor wenigen Monaten eingeweihte Vorzeigebauten international bekannter Architekten.

2. Mai 2003 - Roman Hollenstein
Die kreative Szene Österreichs steht zurzeit im Banne der europäischen Kulturhauptstadt Graz. Die steirische Metropole trumpft nicht nur mit Musik, Theater und Kunst auf; sie zelebriert auch die Architektur: Schon jetzt, vier Monate vor der Eröffnung, sorgt das neue Kunsthaus von Peter Cook und Colin Fournier, dessen Plastic-Hülle an ein Herz mit abgetrennten Aorten erinnert, für Aufregung - und dies nicht nur seiner Form wegen. Viele wundern sich nämlich, dass die Aufträge zu diesem Musentempel und zur ebenfalls im Hinblick auf das Kulturjahr 2003 von Vito Acconci realisierten Insel in der Mur an internationale Stars vergeben wurden, wo doch die Grazer Schule seit Günther Domenig mit ebenso exzentrischen Architekten aufwarten kann. - Ganz anders in Innsbruck, der gut 120 000 Einwohner zählenden Hochburg des österreichischen Wintersports. Dort fristete die Baukunst lange Zeit ein Schattendasein. Doch dann erkannte die Tiroler Landeshauptstadt, die seit den Olympischen Winterspielen von 1964 und 1976 weltweit mit Sonne, Schnee und Goldenem Dachl gleichgesetzt wird, dass sie für das touristische Marketing neue Zeichen braucht - auch bauliche. Zu einem solchen kam sie gleichsam über Nacht, als die altersschwache Skisprunganlage auf dem Bergisel, der durch die Tiroler Freiheitskriege und mehr noch durch die Vierschanzentournee bekannt gewordenen Anhöhe über Innsbruck, durch einen Neubau von Zaha Hadid ersetzt wurde.

Diese spektakuläre neue Schanze war nur möglich geworden, weil die Verantwortlichen nach vielem Hin und Her die Notwendigkeit eines Wettbewerbs einsahen. Zu diesem wurden 1999 ausser Hadid auch die aus Tirol stammenden Wahlwiener Dieter Henke und Marta Schreieck sowie Jürg Conzett aus Chur eingeladen. Erstaunlicherweise konnte sich die in London tätige Irakerin, welche den bisher meist als rein funktionale Bauaufgabe angesehenen Schanzenbau zu einer Frage des Designs machte, mit ihrem schwierigen Projekt durchsetzen. Realisiert wurde Hadids einprägsamer Entwurf, der die optimistisch-frivole Sprache der fünfziger Jahre zu perfektionieren scheint, mit der kreativen Unterstützung des Innsbrucker Bauingenieurs Christian Aste. Blickfang dieses ingenieurtechnisches Können und baukünstlerische Phantasie vereinenden Juwels der Sportarchitektur ist die bedrohlich weit auskragende, entfernt an die Kabine einer Schwebebahn erinnernde Kanzel, in der sich ein rundum gläsernes Aussichtsrestaurant befindet. Elegant wird sie vom kantigen Erschliessungsschaft und von der geschwungenen Sprungschanze in den Himmel gestemmt, so dass die 48 Meter hohe skulpturale Konstruktion weithin als neues Wahrzeichen der Stadt und als medial wirksames Aushängeschild des immer populärer werdenden Skispringens in Erscheinung tritt. Gleichzeitig veranschaulicht sie aber auch eine Entwicklung im Schaffen der Architektin vom aggressiv zersplitterten Dekonstruktivismus hin zu einer organischeren Form.

Seit einem halben Jahr wacht Hadids Bauskulptur nun schon wie eine Heilige des Wintersports über der Stadt und gibt jedem, der mit dem Zug in Innsbruck ankommt, bereits von weitem zu verstehen, dass ein neuer Geist durch das traditionsbewusste Touristenmekka weht. Noch mehr Aufbruchstimmung schlägt einem entgegen, wenn man dann die Grossbaustelle des neuen Hauptbahnhofs betritt, der bereits im nächsten Jahr nach den Plänen der Grazer Shootingstars Florian Riegler und Roger Riewe vollendet sein soll. Für dieses Projekt kam die jüngst vom Architekturforum Tirol durchgeführte «Hochhausstudie» (www.hochhausinnsbruck.at) zu spät, so dass am Hauptbahnhof noch kein Himmelsstürmer als «spezielle Ausnahme» in Erwägung gezogen werden konnte. Hochhausgegnern dürfte das recht sein; und vielleicht werden einige in der 75 Meter langen Bahnhofshalle sogar einen gefällten Turm sehen - eine Vorstellung, die noch immer zum Image der Innsbrucker zu passen scheint.
Tiroler Aufbruch

Trotz einigen Neubauten in Bahnhofsnähe misstraut nämlich die lange von der Fiaker- und Hofburgkultur geprägte Stadt, die nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs alles daransetzte, um ihr zwischen Mittelalter, Barock und Gründerzeit oszillierendes Erscheinungsbild wiederherzustellen, im Grunde bis heute der modernen Architektur, auch wenn die Tiroler Baukünstler - wohl wachgerüttelt durch die Entwicklungen in Vorarlberg und in Graubünden - in jüngster Zeit viel Terrain gutmachen konnten. Noch Mitte der achtziger Jahre stellte nämlich das graue Oktogon von Raimund Rainers Gastspieltheater «Treibhaus» im parkartigen Restraum hinter der Jesuitenkirche eine Provokation dar. Denn selbstbewusste Neubauten hatte man bis dahin nur in den Aussenquartieren toleriert. Dort trifft man auch auf ganz neue Arbeiten wie die grossstädtisch anmutenden Wohnsiedlungen des Vorarlberger Erfolgsbüros Baumschlager & Eberle oder das von einer gläsernen Membran umgebene BTV-Verwaltungsgebäude, das die ortsansässigen Architekten Johann Obermoser und Helmut Reitter vor kurzer Zeit am Langen Weg, einer historischen Ausfallachse, vollenden konnten.

Obermoser war es auch, der 1991 zwischen der Badgasse und dem Innufer im historischen Zentrum eine präzise Reparatur eines «fragmentarischen Stadtraums» durchführte. Zum Fluss hin zeigt der Neubau, der einen alten Kern umschliesst, eine bildhaft flache, grau verputzte Schaufassade, deren kleiner Glasvorbau die in der Altstadt beliebten Erker neu interpretiert. Von Obermosers Können profitierten daraufhin Henke & Schreieck, die ihn als Partner vor Ort für die Realisierung ihres «SOWI» genannten Neubaus der renommierten sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck gewinnen konnten. Der vor vier Jahren eingeweihte, formal noch gewisse Unstimmigkeiten eines Frühwerks aufweisende Gebäudekomplex erhebt sich - umgeben von Hofgarten, Landestheater und Jesuitenkirche - auf dem ehemaligen Kasernenareal. Zwischen einem an die Universitätsstrasse vorgeschobenen Solitär und dem L-förmigen Hauptbau, der formal aggressiv nach Osten und Süden ausgreift und an der Knickstelle eine amöbenartige Fassadenwellung aufweist, weitet sich ein von Studenten belebter Platz, den man als städtebaulichen Wurf bezeichnen kann.

Urbanistisch überzeugt auch Peter Lorenz' siebengeschossiger Neubau des Kaufhauses Mair an der zentralen Colingasse. Dass dieses harte Gebäude mit den modisch lithographierten Betonplatten und der zur Bürgergasse hin vorgestellten Glasfassade auf Ablehnung stiess, überrascht kaum. Dennoch wäre es zu begrüssen, wenn die als riesige Vitrine konzipierte Kaufhauserweiterung möglichst bald vollendet werden könnte. Handelt es sich hier doch um einen gezielten Eingriff, der durchaus verglichen werden darf mit dem viel grösseren, aber ebenfalls in einen gewachsenen Kontext (den des Landeskrankenhauses nämlich) eingefügten Medizinalzentrum von Michael Loudon und Paul Katzberger. Der im Jahr 2001 vollendete sechsgeschossige Grossbau mit seiner modernistisch-abstrakten Fassade aus hellem Kalkstein, Stahl und Glas, die bald an Terragni, bald an Alejandro de la Sotas Regierungsgebäude in Tarragona erinnert, birgt zwei Lichthöfe. Diese verleihen dem Empfangsbereich mit Café und Wintergarten die angenehme Atmosphäre eines Hotels und sorgen für gut belichtete Zimmer und Arbeitsräume.
Findling und Miniaturhochhaus

Die selbstbewusste städtebauliche Rhetorik des Medizinalzentrums lässt die 1927 an der Salurner Strasse vollendeten moderat modernen Stadtwerke des lange in Innsbruck tätigen Lois Welzenbacher geradezu bescheiden wirken. Dabei gab deren neungeschossiger Verwaltungsturm einst Anlass zu Innsbrucks erstem Hochhausstreit. Jetzt aber sorgt ein dunkler, enigmatischer Findling im Hof der Stadtwerke für Irritation: das anthrazitfarbene Umspannwerk Mitte von Ben van Berkel, dem heute neben Rem Koolhaas wohl wichtigsten holländischen Architekten. Dass man in Österreich solchen Infrastrukturbauten eine architektonische Bedeutung beimisst, ist Salzburg zu verdanken, wo in den frühen neunziger Jahren dank einem günstigen architektonischen Klima so exotische Blüten wie das Umspannwerk von Bétrix und Consolascio gedeihen konnten. Damals beschäftigte sich auch van Berkel mit einem Umspannwerk, und zwar für Amersfoort. Das gab ihm jenes Know-how, dank dem er sich 1996 den Innsbrucker Wettbewerb und damit seinen ersten internationalen Auftrag sichern konnte.

Der Holländer fügte die einzelnen Volumen der Transformatoren-, Schalt- und Arbeitsräume additiv aneinander und schuf so einen unregelmässigen Betonkörper, über den er - einem Neoprenanzug gleich - eine fast samtige Hülle aus Basalt stülpte, wodurch eine organisch-topologisch anmutende Aussenform entstand. Das erstarrte Vulkangestein diente ihm als architektonische Metapher der Transformation von Energie - ähnlich den Kupferbändern, welche Herzog & de Meuron zuvor schon als Fassadenschutz ihrer Stellwerke nutzten. Während die Basler damit die Frage nach der Bekleidung eines Stellwerks auf eine überzeugende, bildhaft-narrative Weise beantworteten, wirkt van Berkels Lösung etwas aufgesetzt, vor allem an der Südwestecke, wo die Hülle über den Fensterbändern so aufgeschlitzt wird, dass sich die einheitliche Oberfläche plötzlich in ein banales Steinfurnier verwandelt.

Gibt sich das amorph wirkende Umspannwerk seiner Natur gemäss verschlossen, so ist mit den «Rathausgalerien» im Herzen Innsbrucks eine ebenso öffentliche wie offene Architektur entstanden. Das Projekt des durch die Pariser Bibliothèque Nationale de France bekannt gewordenen Dominique Perrault wurde 1995 in einem Wettbewerb gekürt, zu dem auch Günther Domenig, Aurelio Galfetti und Massimiliano Fuksas eingeladen waren. Der mit viel Fingerspitzengefühl zwischen alte Stadthäuser eingefügte, aus dem neuen Rathaus und einer Ladenpassage bestehende Baukomplex vermag aller lokalen Kritik zum Trotz architektonisch und urbanistisch zu überzeugen. Von der Maria-Theresien-Strasse her betritt man die transparent gestaltete Stadt in der Stadt durch die Portalanlage des barocken Rathauses. Am neu gestalteten Adolf-Pichler-Platz, der von schönen Gründerzeitbauten gerahmt wird, setzt hingegen der gläserne Eckbau des Hotels «Penz» einen zeitgenössischen Akzent. Nur von hier aus ist auch der 37 Meter hohe Glasturm zu sehen, dem Peter Koglers bald an Brice Marden, bald an Fernand Léger erinnernde Serigraphien einen Hauch von «Metropolis» verleihen. Exakt über dem Achsenkreuz der Einkaufsgalerie placiert, dient der Turm dem neuen Rathaus als vertikale Erschliessung. Von seiner Aussichtsplattform und dem anschliessenden Café aus geht der Blick auf den zweiten neuen Turm der Stadt: Zaha Hadids organisch-skulpturale Sprungschanze auf dem Bergisel, die sich anders als Perraults verstecktes Miniaturhochaus ganz selbstbewusst zur Schau stellt.
Bezug zur Alpenlandschaft

Mit den in der Höhe abgestuften «Rathausgalerien», die auf die Topographie der Alpenlandschaft zu antworten scheinen, hat Perrault gleichsam die «Urbanissima» genannte Variante des von der Innsbrucker Hochhausstudie vorgeschlagenen innerstädtischen Hochhauskonglomerats vorweggenommen. Die kühle Intervention aus Stahl und Glas, der eisblaue Wände und fast wie das Goldene Dachl glänzende Sonnenblenden eine heitere Note verleihen, überzeugt durch Klarheit und Abstraktion, lässt aber dennoch Leben zu. Innsbruck jedenfalls hat mit diesem Ende 2002 eingeweihten innerstädtischen Einkaufs- und Flanierbereich einen attraktiven halböffentlichen Raum erhalten.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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