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Baukunst auf Papier
Neue Zürcher Zeitung

Architekturzeichnungen des 20. Jahrhunderts in Frankfurt

Im Verlaufe der letzten siebzig Jahre und mit einem besonderen Effort in jüngster Zeit hat das Museum of Modern Art in New York eine breit gefächerte Sammlung von Architekturzeichnungen des 20. Jahrhunderts zusammengestellt. Eine Auswahl der bedeutendsten Blätter ist nun in der Frankfurter Schirn-Kunsthalle zu sehen.

6. Mai 2003 - Roman Hollenstein
Die explodierende Weltlandschaft von Zaha Hadid wirkt auf den ersten Blick wie eine Computerdarstellung. Dabei handelt es sich um ein Acrylgemälde, das die Künstlerarchitektin 1991, Jahre nach dem Scheitern ihres legendären Klubhaus-Projektes für den Hongkong-Peak, ausführte. Seither hat der Computer den entwerferischen Alltag der Architekten derart verändert, dass es möglich geworden ist, am Rechner Präsentationen von ungebauten Werken zu generieren, die wie Fotos eines realen Zustandes aussehen. Gleichwohl dürfte der Computer kaum den Tod der Architekturzeichnung bedeuten. Denn Architekten wie Hadid werden auch in Zukunft ihre künstlerischen Neigungen ausleben wollen; und die schnell auf ein Stück Papier notierte Ideenskizze wird weiterhin wichtig bleiben. Kurz: die Gattung der Architekturzeichnung, die vom flüchtigen Entwurf über den exakten Plan bis hin zur Utopie reicht, dürfte ebenso Bestand haben wie die Architekturphotographie, die heute im Werk von Fotokünstlern wie Andreas Gursky, Candida Höfer, Thomas Ruff oder Hiroshi Sugimoto neue Triumphe feiert.


Der Architekt als Visionär

Obwohl man Architekturdarstellungen bereits von pompejanischen Wandmalereien, mittelalterlichen Illuminationen, gotischen Kirchenfenstern oder ostasiatischen Rollbildern her kennt, begegnet man den eigentlichen, auf ein bestimmtes Projekt oder eine Idealvorstellung bezogenen Architekturzeichnungen in grösserer Zahl erst seit der Erfindung der Zentralperspektive in der Renaissance - auch wenn mit dem St. Galler Klosterplan als «weltweit ältestem Bauplan» eine Darstellung aus dem frühen 9. Jahrhundert auf uns gekommen ist. Schon Vasari sammelte Architekturzeichnungen. Doch erst im 18. Jahrhundert stiegen sie dank Piranesi, den französischen Revolutionsarchitekten und den Akademien zur eigenständigen Gattung auf. Ihre hohe Zeit war zweifellos das 19. Jahrhundert mit seiner raffinierten Darstellungskultur, die in Schinkels Visionen eines Königspalastes auf der Akropolis einen Perfektionsgrad erreichte, von dem in den achtziger Jahren postmoderne Architekten wie Leon Krier oder die «Analogen» an der Zürcher ETH um Rossi, Reinhart und Šik nur träumen konnten und der auch neben computergenerierten Bildern mit Leichtigkeit bestehen kann.

Im frühen 20. Jahrhundert wurden die Jugendstilornamente von Hoffmann, Horta oder Mackintosh bald schon abgelöst durch expressionistische Darstellungen von Poelzig oder Bruno Taut, denen wiederum puristische und konstruktivistische Phantasien folgten. Seither avancierte die schnelle Skizze zum Inbegriff der künstlerischen Genialität - wie dies Frank Gehrys Strichknäuel oder Rafael Viñolys nervöse Schraffuren in der soeben eröffneten Ausstellung «Visionen und Utopien - Architekturzeichnungen aus dem Museum of Modern Art» in der Frankfurter Schirn Kunsthalle zeigt. Dort ist in einem stimmungsvollen, von Ben van Berkel mit dynamisch geschwungenen Schwebewänden unterteilten Saal eine Auswahl von knapp 200 kostbaren Architekturzeichnungen aus den an Highlights reichen Beständen des New Yorker Kunstinstituts zu sehen. Diese Vielzahl von Meisterwerken erstaunt, denn das MoMA, das in seiner Architekturabteilung lange vor allem auf Fotos und Modelle setzte, entdeckte die Architekturzeichnung eher spät. Zwar wurden schon anlässlich der pionierhaften «International Exhibition» von 1932 zwei von Le Corbusier kolorierte Lithographien des Pariser «Pavillon Suisse» erworben, doch bis in die achtziger Jahre machten vor allem die 18 000 Nummern des Archivs von Mies van der Rohe, einige prachtvolle Zeichnungen von Louis Kahn, Oscar Niemeyer und Eero Saarinen sowie mehrere von Philip Johnson geschenkte Collagen Raimund Abrahams und Hans Holleins die Bedeutung dieser Zeichnungssammlung aus. - Gewichtige Zugänge in jüngster Zeit - darunter Blätter von Architekten, die zu Ausstellungen eingeladen waren, sowie die Schenkung der in den späten siebziger Jahren zusammengestellten, gut 200 Arbeiten von visionärem Charakter umfassenden Howard Gilman Collection - liessen die Ausstrahlung der MoMA-Bestände schnell anwachsen. Gerade das vor drei Jahren übergebene Gilman-Konvolut, das im vergangenen Winter im MoMA Queens gezeigt wurde (NZZ 5. 12. 02), vermag durch seine utopischen Arbeiten von Buckminster Fuller, Archigram, Superstudio oder Rem Koolhaas zu begeistern. In der Frankfurter Schau ist diesen «Visionen» ein eigener Bereich zugeteilt worden. Dort findet sich aber auch ein bereits 1981 als eine der ersten utopischen Darstellungen in die MoMA-Sammlung eingegangenes Blatt des SITE-Architekten James Wines, das eine zehngeschossige Stahlbetonstruktur zeigt, auf deren einzelnen Etagen Einfamilienhäuser mit Vorgärten stehen. Damit nimmt Wines auf ironische Weise die Verdichtungsvorschläge des Rotterdamer Trendbüros MVRDV vorweg, das mit den gestapelten Landschaften des holländischen Pavillons an der Expo 2000 in Hannover Berühmtheit erlangte und nun auch mit Rezepten für eine neu zu gestaltende Schweiz aufwartet.


Als Kunstwerke inszeniert

Die Schau will aber weder Theorien noch Ideologien veranschaulichen. Vielmehr zelebriert sie die Architekturzeichnungen als eigenständige Kunstwerke in einer eher willkürlich anmutenden Gliederung, die neben den «Visionen» auch Themenbereiche wie «New York» (mit einem hervorragenden Blatt von Paul Rudolph), «Wohnhäuser», «Gedenkstätten» oder «Zentren der Kultur» umfasst. Anders als der attraktive Katalog, der eine ruhige Chronologie von Wagner und Wright bis Ando, Botta und Tschumi bietet, sorgt diese Hängung für spektakuläre Gegenüberstellungen, wenn etwa die expressive Kreidezeichnung des Friedrichstrasse-Hochhauses von Mies van der Rohe auf die Darstellung des kubischen Palazzo della Civiltà Italiana von Ernesto Bruno La Padula trifft - ein Temperagemälde, das in jeder Surrealistenschau zum Blickfang würde.

Verglichen mit staatlichen oder städtischen Bauarchiven und den Sammlungen Technischer Hochschulen oder Institutionen wie des Londoner RIBA, nehmen sich die MoMA-Bestände noch immer bescheiden aus. Sie bestechen aber durch ihre Qualität und ihr breites Spektrum, auch wenn weiterhin grosse Lücken klaffen. Diese im Hinblick auf einen gültigen Überblick über die Architekturzeichnung im 20. Jahrhundert zu schliessen, wird künftig neben dem Zusammentragen von Papierarbeiten und Computerbildern zeitgenössischer Baukünstler eine der Hauptaufgaben des MoMA sein. Da viele Architekten ihre Zeichnungen ungern verkaufen (die Galerieausstellung von Herzog & de Meuron 1997 bei Peter Blum in New York war eine Ausnahme, die diese Regel bestätigt), hängt die Sammlungspolitik auch künftig von einer aktiven Ausstellungstätigkeit ab. Gerade aber auf diesem Gebiet setzt das MoMA seit siebzig Jahren Massstäbe.


[Bis 3. August. Katalog: Visionen und Utopien. Architekturzeichnungen aus dem Museum of Modern Art. Hrsg. Museum of Modern Art. Prestel-Verlag, München 2003. 256 S., Fr. 111.- (die Paperbackausgabe in der Ausstellung kostet Euro 29.-).]

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