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Das Leben in der automobilen Gesellschaft
Neue Zürcher Zeitung

Die erste Architekturbiennale in Rotterdam

Die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam steht unter dem Motto «Mobilität». Das Niederländische Architekturinstitut wartet mit thematischen Ausstellungen über die «World Avenue» und die «Holland Avenue» auf, während im ehemaligen Speichergebäude «Las Palmas» internationale Verkehrsprojekte präsentiert werden.

10. Mai 2003 - Klaus Englert
Am Anfang der modernen Stadt- und Verkehrsplanung stand die Vision eines Schweizers: Als Le Corbusier 1929 durch das Flugzeugfenster die Silhouette Rio de Janeiros betrachtete, kam ihm eine Idee, die bis heute die architektonischen Debatten anstachelt: Eine «majestätische Autobahn» sollte das gesamte Territorium auf etwa hundert Metern Höhe durchqueren und die Stadt mit dem Hinterland verbinden. «Damit man mich recht verstehe», notierte Le Corbusier, «die Autobahn erhebt sich überhalb der bezaubernden Bucht und steigt über die Stadt bis hinauf zu den Dächern der Wolkenkratzer. Nicht durch die Brückenbögen gewinnt sie an Höhe, sondern weil sie über den Gebäudekuben entlangführt, die für die Menschenmassen konstruiert wurden.» Anfangs liessen sich von Le Corbusiers Idee Techno-Utopisten anstecken, die Metropolen wie Schluchten entwarfen, durchzogen von zahllosen Tunnelsystemen für den Autoverkehr. Doch dann kam «Metropolis» und offenbarte die Kehrseite der Technikbegeisterung - Menschen hinter der Fassade gigantischer Monumente, unter das Diktat der Maschinisierung gezwungen.


Gefahren urbaner Desintegration

Wenn nun die erste Internationale Architekturbiennale in Rotterdam Ausstellungen präsentiert, die sich sowohl dem Leitthema «Mobilität» als auch Le Corbusiers Vision verpflichtet fühlen, so liegt dies vornehmlich daran, dass die Verkehrsprobleme in den rapide wachsenden Metropolen weit weg von einer Lösung sind. Francine Houben vom Architekturbüro Mecanoo als Direktorin der diesjährigen Biennale und Maria Luisa Calabrese als Kuratorin sind davon überzeugt, dass Le Corbusiers Ansatz eine gestalterische Kraft innewohnt, die geeignet ist, die Gefahren der urbanen Desintegration zu meistern. Gerade die Niederländer wissen um die Risiken des «urban sprawl»: der Aufteilung der Siedlungsstrukturen in Freizeit-, Arbeits- und Schlafstädte sowie des Zubetonierens des letzten Restgrüns. Dessen Wahrnehmung ist mittlerweile laut Adriaan Geuze entlang der Autobahn von Rotterdam nach Den Haag auf zwei Minuten Fahrzeit geschrumpft. Dort, wo früher Weideland war, gibt es heute Autobahnausfahrten mit Business-Centers und McDonald's-Restaurants. Diese Entwicklung erachtet der Rotterdamer Landschaftsarchitekt «für ein kleines Land wie Holland» als «katastrophal».

Deswegen zeigen Geuze und das Rotterdamer Architekturbüro MVRDV, wie Bauen und der Umgang mit Grünraum angesichts knapper Ressourcen und wachsenden Wohnungsbedarfs sinnvoll sein können. Die Architekten von MVRDV schlagen für das Stadtzentrum von Leidschenveen die Errichtung einer «vertikalen Stadt» vor: eine fächerartig gestapelte Bebauungsstruktur mit Parkrampen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen. Sie möchten am liebsten die funktionale Trennung des Verkehrs rückgängig machen und wie Le Corbusier das Auto wieder voll ins städtische Leben integrieren - aber mit neuen Raumverbindungen und Schnittstellen. Geuze zeigt in der Ausstellung im einstigen Speichergebäude «Las Palmas», das im Rahmen der Architekturbiennale internationalen Teams eine Plattform bietet, einen anderen Weg: Im südkalifornischen Pasadena baut er, begeistert von den Parkways des amerikanischen Landschaftsarchitekten Frederik Law Olmsted, den «Elevated Arroyo Parkway» als programmatischen Gegenentwurf zur Metropole Los Angeles. Entsprechend dem Ausstellungsmotto «A Room with a View» stellt er den endlos verschlungenen Autobahnen von Los Angeles farbige Landmarken entgegen, die entfernt Luís Barragáns Türmen an den Hauptstrassen von Mexico City gleichen. Qualitätvolle räumliche Verdichtung und Panoramablicke auf die umgebende Landschaft - auch für Francine Houben liegt darin das Ideal von Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung.

Wer eine Probe aufs Exempel machen will, unternehme einen Besuch der sehenswerten Ausstellungen «World Avenue» und «Holland Avenue» im Niederländischen Architekturinstitut (NAI). Houben hat zehn Ballungszentren aus Asien (Tokio, Peking, Pearl-River-Delta, Jakarta, Beirut), Europa (Budapest, Randstad Holland, Ruhrgebiet) und Amerika (Mexico City, Los Angeles) ausgewählt. Über Mexico City erfährt man, dass die Autofahrer das Programm zur Verkehrsreduktion unterliefen, indem sie sich Zweitwagen zulegten und so die Anzahl Autos noch erhöhten. Auf einer rotierenden Plattform können sich die Besucher in einen VW-Käfer setzen und virtuell über chaotische Autopistas bis hinaus in die Vorstädte fahren - vorbei an hupenden Autos und Strassenverkäufern. Dem NAI gelingt in der Hauptgalerie eine eindrückliche Verbindung von Information und atmosphärischer Dichte. Einprägsam ist das Beispiel des Pearl-River-Deltas, eines explosiv gewachsenen Ballungsgebiets westlich von Hongkong mit Chinas dichtestem Strassennetz, 1260 Brücken und 5 Flughäfen. Die Autofahrt führt hier durch Hochhauswälder, deren erschreckende Uniformität zum globalen Zeichen schneller Rendite geworden ist. Verglichen damit wirkt die Reise durchs Ruhrgebiet fast schon gemütlich: überall Fastfood-Lokale, rauchende Fabrikschlote, Reihenhaussiedlungen und schliesslich die vertrauten Staumeldungen aus dem Autoradio.


Ästhetik der Autobahnen

Die Ausstellungen im NAI und in «Las Palmas» fragen danach, wie sich die wachsende Mobilität der Gesellschaft auf die städtischen Strukturen auswirkt. Houben und Calabrese sind sich bewusst, dass es kein Zurück in eine Zeit geben darf, als das Einfamilienhaus im Grünen und das Auto eine symbiotische Einheit bildeten. Nicht extensiver Strassenausbau, sondern extrem verdichtete Stadtautobahnen sind das Ziel. Statt um die Entfesselung der Mobilität geht es um deren Steuerung, statt um urbane Zerstreuung um Verdichtung. Houbens Motto «A Room with a View» ist Kevin Lynchs Untersuchungen zur visuellen Wahrnehmung von Autofahrern geschuldet. Um die besonderen Qualitäten von Städten und Landschaften besser aufnehmen zu können, müsse mehr Wert auf die Gestaltung der Strassen gelegt werden. Es geht also auch um die Ästhetik der Autobahnen. In «Las Palmas» werden zudem Bauwerke präsentiert, die den täglichen Bewegungsfluss besonders gut ins architektonische Konzept integrieren. Etwa Ben van Berkels Arnheimer Bahnhof oder der spektakuläre Fährenterminal in Yokohama von Foreign Office Architects, der wie eine ins Meer hinausragende Parklandschaft gestaltet ist. Und nicht zuletzt Peter Haimerls Entwurf für ein vernetztes, überirdisches Transportsystem, das die herkömmliche Automobilität ersetzen und Synergien für die Gestaltung des Stadtraums freisetzen soll. So verschieden die Konzepte sind: Mit Le Corbusiers Vision haben sie gemeinsam, dass sie die Strasse als Korridor durch ereignislose Stadt- und Landschaftsräume verwerfen. Die Strasse soll Erlebnisqualität gewinnen. Auch wenn sie keine Aussicht auf die Bucht von Rio bietet.


[ Bis 7. Juli: Architekturbiennale im NAI, in «Las Palmas» und im Pakhuis Meesteren. Kataloge: Francine Houben, Luisa Maria Calabrese: Mobility. A Room with a View. NAI Publishers, Rotterdam 2003. 447 S., Euro 35.-. - Mecanoo Architecten: Holland Avenue 2002/2030, Research/Design Road Atlas. Ministry of Transport, Den Haag 2003. 150 S., Euro 10.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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