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Ethos und Pathos
Neue Zürcher Zeitung

Expressionistische Architekturvisionen in Bremen

In den vergangenen Jahren haben expressive Formen in der Architektur neue Aktualität erhalten. Damit kommt eine Ausstellung über expressionistische Architektur in Bremen gerade zur rechten Zeit. Sie lässt anhand von hochkarätigen Exponaten die ausdrucksstarke deutsche Baukunst des frühen 20. Jahrhunderts glanzvoll Revue passieren.

12. Mai 2003 - Hubertus Adam
Zwischen Marktplatz und Weser hat sich in Bremen - trotz Kriegsbeschädigungen und mancherlei späterem Umbau - eines der eindrücklichsten Ensembles der expressionistischen Architektur erhalten: die Böttcherstrasse, nach 1922 auf Initiative des Bremer Kaufmanns und Kaffee- Hag-Produzenten Ludwig Roselius als Ensemble aus Restaurants und Kulturbauten errichtet. Besonders die Gebäude des Künstlerarchitekten Bernhard Hoetger sind es, die der engen Gasse ihr unverwechselbares Gepräge geben: das Paula- Becker-Modersohn-Haus (1927), eine zwischen orientalisierender Exotik, niederdeutscher Archaik und höhlenähnlicher Formgebung oszillierende Ziegelstein-Phantasie, und das (hinter einer späteren Fassadengestaltung verborgene) Atlantis- Haus (1931). Die parabelförmige Dachkonstruktion des «Himmelssaals», aber auch das Treppenhaus zählen zu den wenigen realisierten Umsetzungen expressionistischer Lichtmystik in der Nachfolge von Bruno Tauts Glashaus auf der Werkbundausstellung Köln 1914. - Widmete sich im letzten Jahr eine umfangreiche Schau der Entstehungsgeschichte der Böttcherstrasse und ihrem schillernden Schöpfer Ludwig Roselius, so lautet der Titel der diesjährigen Ausstellung im Paula- Modersohn-Becker-Museum «Bau einer neuen Welt - Architektonische Visionen des Expressionismus». Entführt wird der Besucher also vornehmlich in die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in der es für Architekten in Deutschland kaum etwas zu bauen gab.


Kunst und Technik

Der allgemein geteilte Wunsch nach einer Veränderung der Gesellschaft brach sich Bahn in einer Vielzahl utopischer Bauprojekte - handle es sich um Mies van der Rohes berühmten Entwurf für das gläserne Hochhaus am Bahnhof Friedrichstrasse in Berlin oder die weltumspannenden Visionen von Bruno Taut, die in einer Reihe von Buchveröffentlichungen erschienen. Als Publizist, als Gründer des logenartig organisierten Zusammenschlusses «Die gläserne Kette» und als Herausgeber der Zeitschrift «Frühlicht» kam Bruno Taut die Rolle des Impresarios unter den expressionistischen Architekten zu; als er 1921 den Posten des Stadtbaurats in Magdeburg übernahm, sah sich der Visionär mit einer Baupraxis konfrontiert, die kaum Spielraum für Utopien liess.

Einige Kollegen standen dem emphatischen Gestus ohnehin seit Anbeginn mit Skepsis gegenüber: Hans Poelzig etwa, der mit der Tropfsteinhöhle des Grossen Schauspielhauses für Max Reinhardt (1918/19) ein Schlüsselwerk des neuen Formempfindens realisieren konnte, oder Erich Mendelsohn, dessen Potsdamer Einsteinturm vielleicht als die Ikone des Expressionismus schlechthin gelten kann. Das ideale Erlebnis stehe über dem räumlichen, der Geist über der Form selbst, so Mendelsohn über Tauts Phantasmagorien. 1923 endete mit Gropius' Slogan «Kunst und Technik - eine neue Einheit» auch im Bauhaus die expressionistische Frühphase. Gerade in Norddeutschland allerdings blieb das expressive Formvokabular noch längere Zeit virulent.

Von der rationalistisch-funktionalistisch orientierten Hagiographie der Moderne marginalisiert, wurde der architektonische Expressionismus erst verspätet wiederentdeckt. Wolfgang Pehnt legte 1973 mit seiner «Architektur des Expressionismus» das Standardwerk vor, das genau ein Vierteljahrhundert später in einer zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage erschien. Denn in den vergangenen zwei Dekaden hat sich die Kenntnis der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts grundlegend erweitert. Dass keineswegs ein Königsweg in die Moderne führte, dass es Seitenpfade, Irrwege gegeben hat, die es eher erlauben, von einem rhizomatischen Geflecht zu sprechen, dürfte zum Gemeingut geworden sein. So kann die Bremer Ausstellung von den Forschungsarbeiten der vergangenen Jahre profitieren - galten sie nun Bruno Taut oder den Brüdern Luckhardt, Hugo Häring, Hermann Finsterlin oder Fritz Höger. Nach der Schau «Expressionismus und Neue Sachlichkeit» im Deutschen Architektur-Museum 1994 handelt es sich zweifellos um die wichtigste Ausstellung zum Thema. Mit mehr als 120 Modellen, Gemälden und Zeichnungen gibt sie einen hervorragenden Überblick über die eindringlichste Epoche in der deutschen Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Als der im Gefolge der Novemberrevolution gegründete «Arbeitsrat für Kunst» im April 1919 in der Berliner Galerie von I. B. Neumann seine «Ausstellung für unbekannte Architekten» veranstaltete, war auch eine Reihe von Projekten des «Tempelkünstlers» und Germanenschwärmers Fidus vertreten. Die Präsentation der pathetischen Kultbau-Entwürfe ist charakteristisch für die parasakrale Grundierung der expressionistischen Bewegung, die ihre weltanschauliche Verankerung bald in christlichen Reformbestrebungen - Otto Bartnings «Sternkirche» beispielsweise, deren Originalmodell von 1922 in der Ausstellung vertreten ist -, bald in der Theosophie oder Anthroposophie, bald im Sozialismus oder Kommunismus, dann aber auch in völkischen, germanisierenden oder nationalistischen Ideologien fand. Diese Spannweite anhand prägnanter Projekte aufzuzeigen, ist ein Verdienst der Bremer Präsentation, die sich in sechs Abteilungen gliedert und mit Themen wie «Vorwärts in die Vergangenheit», «Von Arkadien nach Metropolis» oder «Sozialismus und Nationalsozialismus» gerade auch die ideologische Ambivalenz des architektonischen Expressionismus thematisiert - der als einheitliche Strömung ohnehin nie existiert hat.


Aktualität des Expressionismus

Neben die «Gläserne Kette» mit Arbeiten von Bruno und Max Taut, Wenzel Hablik, Hermann Finsterlin sowie Hans Scharoun und das frühe Bauhaus tritt eine Reihe anderer Positionen: so die grandiose «Kunststätte», welche der aus Zug stammende Schweizer Bildhauer Johann Michael Bossard über mehrere Jahrzehnte im Sinne seiner nietzscheanisch-germanisierenden Privatmythologie im Heidesand als Tempel- und Atelierkomplex errichtete - ein wenig bekanntes Hauptwerk des norddeutschen Expressionismus. Und Hermann Sörgel verfolgte seit 1928 die «Atlantropa» benannte Idee, durch einen gigantischen Damm bei Gibraltar den Pegel des Mittelmeers abzusenken und Europa und Afrika zu einem Superkontinent zu verschmelzen. An der Vision beteiligten sich mit Peter Behrens, Erich Mendelsohn, Cornelis van Eesteren, Hans Poelzig, Fritz Höger und Lois Welzenbacher einige der prominentesten Architekten der Zeit.

Nach der Phase des Minimalismus besitzen expressive Formen heute neue Aktualität - avancierte Software ermöglicht es, dass die Ideen von Frank O. Gehry, Ben van Berkel, Greg Lynn oder Asymptote sich berechnen und schliesslich auch realisieren lassen. Anders als früher, so Wolfgang Pehnt in seiner Einleitung zum Bremer Katalog, ist der zeitgenössische Expressionismus allerdings nicht mehr mit sozialen oder religiösen Glaubensbekenntnissen verbunden. In der Tat zeigt er sich als ein Stil unter anderen, bleibt letztlich ästhetisch motiviert. - In Bremen lohnt ergänzend zu der Schau in der Böttcherstrasse ein Blick auf zwei Meisterwerke des «Nachkriegsexpressionismus»: Direkt am Markt steht das gläserne «Haus der Bürgerschaft» (1959-1966), ein auf das Überzeugendste in den historischen Bestand eingefügtes Spätwerk von Wassili Luckhardt, und hinter dem Bahnhof die durch sechs in den Himmel ragenden Pylonen gegliederte Stadthalle (1955- 1964) von Roland Rainer, die leider durch Umbaupläne gefährdet ist.


[Bis zum 8. Juni im Paula-Modersohn-Becker-Museum in Bremen, anschliessend vom 16. Juli bis zum 15. September im Bauhaus-Archiv Berlin. Katalog: Bau einer neuen Welt. Architektonische Visionen des Expressionismus. Hrsg. Rainer Stamm und Daniel Schreiber. Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2003. 192 S., Euro 24.-.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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