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Ein Virtuose des Betons
Neue Zürcher Zeitung

Pritzker-Architekturpreis an den Brasilianer Paulo Mendes da Rocha

11. April 2006 - Roman Hollenstein
Die Vergabe des oft und gerne mit dem Nobelpreis verglichenen Pritzker-Architekturpreises gibt jedes Frühjahr Anlass zu Spekulationen. So vermutete man, dass sich die aus sieben Architekten, Kritikerinnen und Unternehmern - darunter Frank O. Gehry und der Basler Rolf Fehlbaum - zusammengesetzte Jury erneut für einen Hauptexponenten des zeitgenössischen Architekturdiskurses entscheiden würde. An vorderster Stelle stand dabei Toyo Ito, der grosse Architekt der mittleren Generation in Japan. Aber auch der im uruguayischen Montevideo geborene und in den USA tätige Argentinier Rafael Viñoly oder vielleicht ein junger Chilene - etwa Mathias Klotz oder Alejandro Aravena - waren mögliche Anwärter. Doch das Preisgericht, das in den vergangenen Jahren zwischen Vordenkern wie Rem Koolhaas, Herzog & de Meuron, Zaha Hadid und Thom Mayne, dem ökologisch engagierten australischen Einzelkämpfer Glenn Murcutt und dem fast schon legendären Dänen Jørn Utzon wechselte, wollte diesmal offensichtlich überraschen und kürte - in einer durchaus überzeugenden Wahl - den 1928 in Vitória geborenen Brasilianer Paulo Mendes da Rocha.

Der kreative Altmeister, der immer wieder Architekturen schuf, die europäische Erfindungen der jüngsten Zeit vorwegzunehmen schienen, war in Fachkreisen spätestens seit der 7. Architekturbiennale von Venedig und der Verleihung des Mies-van-der-Rohe-Preises für lateinamerikanische Architektur (2000) bekannt. Die vor vier Jahren von der Zürcher Architektin Annette Spiro im Niggli-Verlag herausgegebene Monographie (NZZ 14. 9. 02) machte Mendes da Rocha dann einem breiteren deutsch- und englischsprachigen Publikum vertraut. Bereits als 30-Jähriger schuf dieser mit dem expressiven Beton-Ufo einer Sporthalle in São Paulo ein Meisterwerk des Brutalismus. Wohnhochhäuser folgten; und mit der formal aus seinen Villen entwickelten São-Pedro-Kapelle, einem transparenten Bau mit schwebendem Betondach, gelang ihm 1987 ein Wurf, der problemlos neben computergenerierten Schöpfungen wie Ben van Berkels Mercedes-Museum in Stuttgart zu bestehen vermag.

Allein in São Paulo zeugen Bauten wie das «Forma»-Möbelgeschäft (1987), dessen Hauptfassade Logo und Vitrine zugleich ist, das Skulpturenmuseum (1988) mit dem dominierenden Schwebebalken oder das Centro Cultural FIESP (1996) von Mendes da Rochas Innovationskraft, die nun hoffentlich dank dem 28. Pritzker-Preis weltweit diskutiert wird. Über seine architektonischen Arbeiten hinaus widmet sich der Brasilianer der ganzen Breite der Gestaltung - von modernistischen Sitzmöbeln über Platzanlagen bis hin zu städtebaulichen Projekten in Montevideo, Vitória oder Vigo. Kurz: Mit Mendes da Rocha wird ein Visionär geehrt, dessen Werk den Architekten des Nordens zeigt, dass sich ein Blick nach Lateinamerika auch heute lohnt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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