Artikel

Ein Pfeiler zu wenig
Neue Zürcher Zeitung

Neue Architektur in der Welterbestätte von Edinburg

Neubauvorhaben in oder direkt neben Weltkulturerbestätten müssen hohen Ansprüchen genügen. Wo diese nicht erfüllt werden, droht der Entzug des Welterbestatus. Im letzten Jahr hat die Unesco Richtlinien für ein erwünschtes Zusammenspiel zwischen Alt und Neu publiziert. Sie helfen, die Baupraxis im schottischen Edinburg zu bewerten.

Morgens eine steinerne Sphinx im Nebel, mittags goldenes Streiflicht in tiefen Gassenschluchten und abends die Erinnerung an Leerie, den von Robert Louis Stevenson in «A Child's Garden of Verse» (1885) so sehnsüchtig herbeigewünschten Gaslaternen-Anzünder: In Edinburg spielen Helligkeit und Dunkelheit mit den starken Farben der schottischen Geschichte. Dazwischen spannt sich eine Zone räumlicher Rätsel und Verwirrungen; manche Häuser haben auf der Vorderseite vier und auf der Rückseite zehn Stockwerke, andere sind unten von Osten und oben von Westen erschlossen. Wohin die unzähligen Treppen führen, ist nie ganz vorhersehbar. Hinauf durch enge Winkel, hinab in gerader Flucht: Laut dem Dichter Hugh MacDiarmid (1892-1978) gleicht Edinburg dem Traum eines irren Gottes.

Im Auge der Welt

So verschachtelt im Detail, so klar gegliedert ist die Stadt jedoch im Grossen. Ihr Kern besteht aus zwei Teilen - der seit dem Mittelalter gewachsenen Old Town, die sich auf hohem Bergrücken entlang der berühmten Royal Mile vom Schloss hinab zum Palast von Holyroodhouse zieht, sowie der seit 1767 nach Plänen von James Craig und anderen Architekten nördlich und parallel der Old Town angelegten New Town, welche dem Zeitalter der schottischen Aufklärung das strenge klassizistische Gesicht gab. Die beiden Stadthälften sind durch das Waverley Valley voneinander getrennt: Wie ein verlorener Drachenflügel schimmert dort unten das riesige gläserne Faltdach des viktorianischen Bahnhofs neben den schönen Princes Street Gardens.

1995 wurden Old und New Town in die Liste der Welterbestätten aufgenommen. Laut der Unesco ist es vor allem das Doppelgesicht der Stadt, das sie so kostbar macht: der Gegensatz zwischen der schattig zerklüfteten Old Town mit dem Schloss als Gipfelpunkt einer verwegenen Skyline und der strikt nach einheitlichen Kriterien geplanten New Town, wo man sich entlang schnurgerader Perspektiven über grosszügig bemessene Strassen und Plätze bewegt. Anders gesagt, geht es hier um Kontraste zwischen den himmelhohen Vertikalen der Altstadt und den langen Horizontalen der Neustadt, zwischen der Rauheit unregelmässig gesetzter Fassaden aus dem 16. und 17. Jahrhundert und der Ebenmässigkeit klassizistischer Strassenfronten, zwischen nördlichen Spitzbögen und antikischen Palmetten, zwischen einfallsreichem Pragmatismus und philosophisch begründeter Rationalität. Überall in der Stadt öffnen sich dabei phantastische Sichtachsen - hier auf den fernen Meereshorizont, dort aus der Tiefe zur Höhe oder von kühnen Brücken hinab.

Windige Höhe

Edinburgs Welterbestätte ist rund viereinhalb Quadratkilometer gross. Von den knapp 4500 aussen grau patinierten und innen oft strahlend farbigen Bauten, die in ihr stehen, sind über drei Viertel denkmalgeschützt; man denkt zum Beispiel an die Kathedrale von St. Giles oder an die von Robert Adam 1791 entworfenen Wohnhäuser am Charlotte Square mit ihrem zarten linearen Baudekor. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zwar einige herbe Abrissverluste, doch in der Folge herrschte eine Politik strikten Konservierens ohne viel Spielraum für Neues. Heute bläst ein anderer Wind: So verwandelt etwa Norman Foster die türmchenbekrönte, von David Bryce und anderen Baumeistern seit 1872 erbaute ehemalige Royal Infirmary im grünen Südzipfel der Welterbestätte in ein mit Glasquadern und elfstöckigen Hochhäusern verdichtetes Wohn- und Geschäftsviertel namens Quartermile, wobei er einen der denkmalgeschützten Altbauten abreissen will. Wegen des erwarteten Effekts der Hochhäuser auf die Skyline mahnte vor kurzem der Internationale Rat für Denkmalpflege (Icomos) die Verantwortung an, welche der Welterbestatus der Stadt auferlegt.

Vor welchem Hintergrund strebt Fosters Masterplan gen Himmel? Nachdem die Konservativen 1987 zum dritten Mal in Folge die britischen Parlamentswahlen gewonnen hatten, sah sich die von der Labour Party dominierte Edinburger Stadtregierung zu einer Fülle marktorientierter Massnahmen gedrängt und nahm intensive Kontakte zum Privatsektor auf. Heute zählt die Stadt - seit je schon die Kapitale schottischen Geldes und Rechtswesens - zu den sechs grössten Finanzzentren in Europa. Mit dem 56 Hektaren grossen Büroviertel «Edinburgh Park» nahe dem Flughafen, für das der amerikanische Architekt Richard Meier 1989 den ersten Masterplan lieferte, antworteten Stadtväter und Investoren auf den Raumbedarf der grossen Banken und Versicherungen. Zum jüngsten Boom Edinburgs trugen aber auch Medizin und Biotechnologie, der Bildungssektor sowie der Tourismus bei, der im Jahr 4,5 Millionen Besucher bringt.

Zentraler Schandfleck

Erfolg zieht an: Seit 1991 ist die Einwohnerzahl von knapp 419 000 auf rund 457 000 gestiegen. In Erwartung weiteren Wachstums werden nun die früher industriell geprägten Hafenviertel Granton und Leith an der Küste des Firth of Forth regeneriert - allein in Granton auf 140 Hektaren. Zwar liegen diese Areale ausserhalb der Welterbestätte, aber Letztere kann sich dem enormen Entwicklungsdruck nicht entziehen. Klar wird das schon an dem verdorbenen Blick von der zentralen Princes Street zum Schloss. Westlich von ihm schieben sich zwei pompös gestylte Büropaläste des Finanzviertels «The Exchange» ins Bild: das Standard Life House (Architekten: Michael Laird Partnership, 1996) und die Clydesdale Plaza (von Cochrane McGregor, 1998/2000), die bereits in der «Schandfleck»-Rubrik der Zeitschrift «Architectural Review» figurierte.

Hier rächt sich das Fehlen von Pufferzonen um die Welterbestätte, von deren Grenze die Exchange wie ein Keil ausgespart ist. Terry Farrell - der Verfasser des Masterplans für dieses neue Stück Edinburg, den man etwa als Architekten des Flughafenbahnhofs von Kowloon in Hongkong kennt - wurde 2004 zum künstlerischen Berater oder «Design Champion» der Stadt bestellt. Bis man mehr darüber weiss, wie er auf das gute halbe Dutzend derzeit in der Welterbestätte hängiger Grossprojekte reagieren wird, rufen die zahlreichen auf deren Gebiet schon errichteten Neubauten vernehmlich nach Reaktionen der internationalen Öffentlichkeit.

Zunächst: Was fordert die Unesco von neuer Architektur im Welterbe-Kontext? Genau fixiert ist das erst seit der im Mai 2005 unter Beteiligung von Icomos in Wien veranstalteten Konferenz «Welterbe und zeitgenössische Architektur». Ihre als Wiener Memorandum publizierten Ergebnisse wurden kurz darauf vom Welterbe- Komitee der Unesco offiziell angenommen. Der Schlüsselbegriff des Dokuments lautet «historische Stadtlandschaft». Zu deren Erhalt werden integrative Vorgehensweisen gefordert, welche zeitgenössische Architektur im Rahmen nachhaltiger Stadtentwicklung in den jeweils gegebenen historischen, räumlichen, visuellen, ökonomischen, technischen, topographischen sowie botanischen Zusammenhängen verankern; dabei sollen auch Verkehrsprobleme, Details des öffentlichen Raums, Grünflächen und so weiter in den Blick rücken. Zugleich verlangt das Memorandum, neue Architektur habe wirtschaftliches Wachstum und soziale Veränderungen zu erleichtern - könne sie doch den betroffenen Städten erhebliche Wettbewerbsvorteile bringen.

Beschränkte Formensprache

Zurück in Edinburg, steht man vor dem ungeschlachten schwarzgelben Bürogebäude mit benachbartem Kino-Komplex und Hotel, das Allan Murray Architects 1998-2002 am oberen Ende des Leith Walk im Ostteil der New Town placierten. Unter dem visuellen Gewicht des Ensembles versucht sich die einbezogene Kirchenfassade von 1846 wie ein schwacher Schatten viktorianischen Selbstbewusstseins im abfallenden Terrain zu halten. Wo hier der Wettbewerbsvorteil durch neue Architektur zu suchen sein soll, ist schwer auszumachen, kennt die Welt doch schon Tausende ähnlich gearteter Flaggschiffe der Freizeit- und Dienstleistungsgesellschaft. Aus dem Hinterausgang des gegenüberliegenden St.-James-Einkaufszentrums (1964-1970) geflüchtet, finden wir uns im Multrees Walk wieder, einer Shoppingzeile mit Luxusangebot zwischen der neuen Busstation und dem Nobelkaufhaus Harvey Nichols. Für das 2002 eröffnete exklusive, aber gesichtslose Ensemble zeichnen Comprehensive Design Architects (CDA) verantwortlich.

Allan Murray und CDA zählen zu den örtlichen Architekturbüros, die sich grosse Teile des Kuchens prominenter Innenstadt-Aufträge teilen. Zusammen haben die beiden Firmen soeben Pläne für einen voluminösen Wohn-, Hotel- und Geschäftskomplex in der finanziellen Grössenordnung von 180 Millionen Pfund am unteren Abschnitt der Royal Mile vorgestellt. Murray geniesst überdies die Unterstützung der Stadt für ein Projekt im oberen Teil der Meile, welches die weitgehende Demolierung eines denkmalgeschützten früheren Verwaltungsgebäudes von RMJM (1968) schräg gegenüber der Nationalbibliothek verlangt, und plant einen weiteren Bau in nächster Nähe des Universitäts-Hauptgebäudes von Robert Adam und William Playfair (1789-1831). CDA ihrerseits haben unter anderem das einer Shopping-Mall verwandte Hauptquartier der Zeitung «The Scotsman» (1999) entworfen, das - überragt von den Felsen der Salisbury Crags - direkt an die Welterbestätte grenzt.

Droht durch die rege Bau- und Planungstätigkeit weniger grosser Büros an exponierten Stellen in Old und New Town am Ende eine Verflachung des von der Unesco so hoch bewerteten Kontrastes zwischen beiden Stadthälften? Eine solche Gefahr sei nicht auszuschliessen, meint David McDonald, Direktor der gemeinnützigen Cockburn Association, die sich der Pflege des Stadtbildes widmet. Keinen Kommentar zur selben Frage gibt es bei der Edinburgh City Centre Management Company (ECCM) - einer Firma, welche von der Stadt, dem Privatsektor und mittelbar auch der schottischen Regierung finanziert wird. Sie koordiniert die Belange aller, die in der Innenstadt Geschäftsinteressen verfolgen. Das Hauptinstrument dabei ist der Aktionsplan «Inspiring Action», der etwa die Fläche der Welterbestätte abdeckt. Trotz Problemen - etwa mit dem überbordenden Individualverkehr - setzt das Papier auf den Ausbau des Einzelhandels. Gordon Reid, der CEO von ECCM, veranschlagt die in der Innenstadt bis 2015 zusätzlich zum bestehenden Angebot geplanten Verkaufsflächen auf gut 50 000 Quadratmeter.

Aber wo in der Welterbestätte ist Platz für Projekte dieser Grösse? Erstens diskutiert die Firma Network Rail mit der Stadt, den Hauptbahnhof mit einem Shoppingcenter zu um- oder überbauen; zumindest mit seinem das Stadtbild prägenden Glasdach von 1874 wäre es dann vermutlich vorbei. Und zweitens soll die Haupteinkaufsstrasse Princes Street, die mitten durch das Herz des Welterbes führt, in den nächsten zehn Jahren für über 500 Millionen Pfund baulich ins globale 21. Jahrhundert katapultiert werden. Zum Vergleich: Die für das Wohl der Welterbestätte zuständige, von der Stadt und der staatlichen Denkmalpflege Historic Scotland getragene Organisation Edinburgh World Heritage (EWH) vergab im Finanzjahr 2004/05 an Eigentümer von Baudenkmalen Zuschüsse von insgesamt 1,071 Millionen Pfund. Es bleibt zu fragen, wie wirksam der von der Unesco verlangte und 2005 von EWH vorgelegte Management-Plan für die Welterbestätte im Verhältnis zum Aktionsplan von ECCM und zu den wirtschaftlichen Prioritäten der Stadtregierung werden kann.

Welle oder Boot

Viele Besucher wollen aber auch anspruchsvolle Gegenwartsarchitektur sehen und besichtigen das 2004 eröffnete Parlamentsgebäude des katalanischen Architekten Enric Miralles, seiner Witwe Benedetta Tagliabue und des örtlichen Büros RMJM. Zu entdecken ist hier eine vordringlich poetische Komposition aus Granit, Schiefer, Holz, Aluminium, Stahl und Sichtbeton. In hyperkomplexer Vieldeutigkeit verflechten sich Wellen-, Augen-, Blatt- oder Bootsmotive mit Anklängen an geologische Formationen, die Treppengiebel der Old Town und die schottische Fahne. Als Ort politischer Arbeit und Mitsprache wirkt der Bau belebend, ohne dass die Aussenfassaden oder die Raumsequenzen im Innern sämtlich überzeugen könnten. Dennoch: Miralles hat hier Muster der historischen Stadtlandschaft erkannt, aufgenommen und in ein neues Idiom übersetzt. Und genau dieses Denkniveau lassen fast alle anderen Grossprojekte in Edinburg so stark vermissen, sieht man von dem nur teilweise missglückten Neubau des Museum of Scotland von Benson & Forsyth (1998) einmal ab.

Im Kleinen wird man eher fündig. In der westlich ans Parlament anschliessenden Holyrood North Site - einem ehemaligen Brauereigelände, das der Masterplaner John Hope seit 1993 nach den historischen Vorgaben der Old Town durch rechtwinklig von der Royal Mile abzweigende enge Gassen erschloss - markiert das Wohnhaus Canongate Nr. 112 des Architekten Richard Murphy (1998) mit seinem gezackt auskragenden hölzernen Dachgeschoss den Eingang zur Crichton Close. Hier steht die von Malcolm Fraser Architects entworfene Scottish Poetry Library (1999). Sie mutet wie die moderne und vergrösserte Variante eines aufgeklappten Standes auf den Buchmessen alter Zeiten an: Ein schwarzer Metallrahmen ist kombiniert mit schlichten Holzverkleidungen, einer gemauerten alten Rückwand unter schräg abfallendem Oberlichtstreifen, einem vorkragenden leichten Pultdach - und im Innern finden wir eine helle, informelle Umgebung.

Vernachlässigte Baukunst

Malcolm Fraser und der von Vorbildern wie Carlo Scarpa und Glenn Murcutt inspirierte Richard Murphy zählen derzeit zu den interessantesten Edinburger Architekten; Murphys versteckte Wohnbauten in der Dublin Street Lane der New Town (1998) sowie seine weissen, turm- und burgartigen Häuser auf dem steilen Areal zwischen Tron Square und Cowgate in der Old Town (2001-2006) lohnen die Suche für jene, die hinter die allbekannten Fassaden der Innenstadt vordringen wollen. Gut eingepasst in das bergige Stadtbild ist aber auch die Moschee, die Basil al-Bayati 1998 knapp südlich der Welterbestätte errichtete. Und wer verspielte Bauten mag, sollte den Kindergarten (2001) in der Old Assembly Close an der Royal Mile aufsuchen: Hier hatte Allan Murray Glück mit seinem jungen Projektarchitekten Steven McGillivray.

Insgesamt scheint es, als müsse sich die Baukunst in Edinburg heute mit ein paar kleineren Projekten begnügen. Entgegen den Leitlinien des Wiener Memorandums bekommt die Welterbestätte immer mehr mittelmässige und auswechselbare Grossbauten mit toten Oberflächen, dürftig gegliederten Volumina und überdimensionierten Glaspartien verpasst, deren Anspruch auf Kontextualität bei der Traufhöhe und den vorgehängten Sandsteinfassaden endet. Der vorherrschende Typus des Architekturwettbewerbs ist hier zum Schaden des Welterbes nicht der offene und internationale, sondern jener, zu dem Investoren eine begrenzte Zahl von Büros einladen. Und diesen fehlt oft die künstlerische Kompetenz im Umgang mit Formen, Licht, Materialien, Symbolen sowie dem visuellen und intellektuellen Inspirationspotenzial der Stadt.

Schon der altrömische Autor Vitruv, auf den sich die Architekten der New Town stützten, nannte Stabilität, Zweckmässigkeit und Schönheit als Grundpfeiler der Architektur. Es würde helfen, sich alle drei zu merken. Edinburgs Stadtlandschaft ist hochempfindlich, doch Norman Fosters Bauprojekt in der Quartermile bildet nicht ihre massivste Bedrohung. Die Unesco wäre gut beraten, in den nächsten Jahren das Gesamtbild scharf zu beobachten und sich nicht durch ein Einzelproblem am Rande der Welterbestätte von den viel riskanteren Vorhaben in deren Zentrum ablenken zu lassen.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: