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Magische Tannen
Neue Zürcher Zeitung

La Chaux-de-Fonds als Zentrum des Jugendstils

Die beiden Boomstädte der vorletzten Jahrhundertwende, La Chaux-de-Fonds und St. Gallen, gelten als Zentren des Jugendstils in der Schweiz. Anders als die Textilhochburg entwickelte aber die Uhrenmetropole unter Charles L'Eplattenier eine eigene, auf Geometrie und Reduktion basierende Variante des Art nouveau: den Style sapin. Ihm widmet das Musée des Beaux-Arts in La Chaux- de-Fonds eine suggestive Übersichtsschau.

28. Juni 2006 - Roman Hollenstein
Allein schon die Inszenierung lohnt einen Besuch der grossen Jugendstil-Ausstellung «Mon beau sapin» in La Chaux-de-Fonds. Unter der Regie der Zürcher Architekten Barbara Holzer und Tristan Kobler ist in den Hallen des Musée des Beaux-Arts eine eindrückliche Präsentation zustande gekommen, die den Objekten aus der leicht angestaubt wirkenden Epoche eine ungeahnte Frische und Strahlkraft verleiht. Höhepunkte der Schau bilden viele zuvor noch nie gezeigte Entwürfe und Realisationen der Style sapin oder Tannenstil genannten geometrischen Variante des Art nouveau in der Uhrenmetropole. Der erste, in knalligem Gelb gehaltene Raum umschreibt mittels erlesener Möbel, Uhren, Zierobjekte, Glasmalereien und Gemälde die Spannweite der lokalen künstlerischen Produktion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Vorbei an Postern und Plakaten, welche die frühe Rezeption des floralen französischen und belgischen Jugendstils, aber auch die sozialen und kulturellen Entwicklungen in der Jurastadt belegen, gelangt man im dritten Saal zu einem grossen Modell von La Chaux-de-Fonds. Dieses visualisiert den durch wiederkehrende Wirtschaftskrisen kaum gebremsten Bauboom der kleinen, multikulturellen Grossstadt in den Bergen, deren modernes Aussehen und deren Dynamik früh schon als amerikanisch bezeichnet wurden.

Weltoffene Stadt

Das nach dem grossen Brand von 1794 ganz rational um einen zentralen Platz mit sternförmig ausstrahlenden Strassen wiederaufgebaute Dorf erhielt 1835 ein von Charles-Henri Junod konzipiertes, zukunftsweisendes Schachbrettraster, das die Stadtwerdung beflügelte und später noch in den urbanistischen Visionen Le Corbusiers nachklingen sollte. Innerhalb dieses Strassennetzes entstanden Fabriken, Mehrfamilienhäuser und Villen, die etwa seit der Zeit der Vollendung der grossen Synagoge (1896) vermehrt mit Dekorelementen des Art nouveau aufwarten konnten. Die schnelle Reaktion auf aktuelle Moden und Stile entsprach ganz der Art der weltgewandten Uhrenfabrikanten. Aber nicht nur die neusten Bauformen wurden importiert. Man sammelte in dem 1886 nach Londoner Vorbild gegründeten Musée d'art industriel auch Vorzeigestücke des gehobenen Kunsthandwerks der Epoche, welche den Schülern der 1870 gegründeten Ecole d'art als Studienobjekte dienen sollten.

Ihre glanzvollsten Jahre erlebte diese Schule unter Charles L'Eplattenier von 1897 bis 1914. Indem der noch immer unterschätzte Künstler, Entwerfer und Lehrer die Ecole d'art erneuerte, verwandelte er La Chaux-de-Fonds in ein Kreativitätszentrum des späten Jugendstils. Inspiriert von der Arts-and-Crafts-Bewegung und den künstlerisch-philosophischen Schriften John Ruskins, William Morris' und des Lausanners Eugène Grasset, hielt er seine Schüler an, die Natur des Juras - von den Tannen bis zur Tektonik der Kalkfelsen - zu studieren, deren Regelmässigkeiten zu analysieren und in abstrakte Ornamente zu übertragen. Kaum hatte er 1905 den Cours supérieur eingeführt, schuf er mit seinen begabtesten Studenten auch schon innenarchitektonische und baukünstlerische Gesamtkunstwerke.

Zum Manifest dieser in der französischsprachigen Welt einzigartigen Transformation des verspielten Art nouveau in eine rationale Dekorationskunst wurde die 1906 vom damals 19-jährigen Charles-Edouard Jeanneret, dem späteren Le Corbusier, unter Mithilfe des Architekten René Chapallaz für den jungen Bijoutier und Unternehmer Louis Fallet entworfene und von Jeannerets Kommilitonen vom Cours supérieur, dem Maler Georges Aubert und dem Bildhauer Léon Perrin, ausgestaltete Villa Fallet. Diesem kleinen Chef d'Œuvre folgten neben verschiedenen Interieurs, darunter der zerstörte Lichtraum der Kapelle von Cernier-Fontainemelon, die zwischen Heimat- und Tannenstil oszillierenden Häuser Stotzer und Jacquemet sowie 1910 - als abschliessender Höhepunkt - das Krematorium von La Chaux-de-Fonds.

Diesen dank der Le-Corbusier-Forschung spätestens seit Stanislaus von Moos' Studie von 1968 «wiederentdeckten» Bauten ist es zu verdanken, dass L'Eplatteniers Style sapin nicht ganz vergessen ging. Den Architekturen ist denn auch zusammen mit Beispielen des Kunsthandwerks sowie den raffiniert gestalteten und 1906 in Mailand ausgezeichneten Taschenuhren der zentrale Raum im Museumsneubau gewidmet. Von hier geht es nach links in eine von Holzer und Kobler ganz frei im Tannenstil eingerichtete Halle, in welcher die vom Musée d'art industriel erworbenen Kostbarkeiten des internationalen Jugendstils mit den Entwürfen des L'Eplattenier-Kreises einen aufschlussreichen Dialog eingehen. Nach rechts hingegen gelangt man durch eine modisch verschachtelte Filmkoje in einen von bunt digitalisierten Jugendstilornamenten überwucherten Saal, der mit Meisterwerken des lokalen Art nouveau aufwartet. Spätestens hier wird klar, dass der Jugendstil-Diskurs künftig nicht mehr um den Style sapin herumkommen wird - zumal mit dem die Schau begleitenden, reich illustrierten Katalogbuch ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der damaligen Dekorationskunst und Architektur in La Chaux-de-Fonds geleistet wurde.

Style sapin und klassische Moderne

Zwar erwies sich der Cours supérieur als ebenso kurzlebig wie die von L'Eplattenier anschliessend angeregten und von Aubert, Jeanneret und Perrin 1910 gegründeten Ateliers d'art réunis und die Nouvelle section der Kunstschule, an der sie alle als Professoren unterrichteten. Doch ebneten diese Initiativen zusammen mit der von L'Eplattenier vorangetriebenen Suche nach einer strukturalen Logik hinter den Erscheinungsformen der Natur und damit letztlich nach gestalterischer Wahrheit den Weg für ihn und seine Mitstreiter in die Moderne. Davon zeugt in La Chaux-de-Fonds das prachtvoll neuklassizistische, 1926 nach Entwürfen von L'Eplattenier und Chapallaz vollendete Kunstmuseum, aber auch Jeannerets architektonische Entwicklung.

Dieser lässt sich auf einem Rundgang durch die Stadt nachspüren, zu dem die Ausstellung ebenso wie ein Stadtplan mit eingezeichneten Art-nouveau-Architekturen einlädt. Vorbei an der Maison L'Eplattenier von René Chapallaz, bei welcher der Style sapin erstmals zu erahnen ist, sowie an den zwischen 1906 und 1909 errichteten Villen Fallet, Stotzer und Jacquemet gelangt man oben am Chemin de Pouillerel auch zum Elternhaus Jeannerets (1912). Hier führte der junge Architekt den nach einer «Synthese von Natur und Geometrie» strebenden Tannenstil weiter in Richtung des corbusianischen Spiels geometrischer Körper im Licht, dem er dann 1917 in der für Anatole Schwob erbauten Villa Turc Klarheit verleihen sollte. Dieses Schlüsselwerk veranschaulicht aber auch, wie sehr La Chaux-de- Fonds und L'Eplattenier als grosser Förderer von Jeanneret auf die architektonischen Visionen Le Corbusiers einwirkten. Auch weil sie diesen Aspekt erhellt, ist die von kleinen Nebenausstellungen zur Uhrmacherkunst der Belle Epoque, zum Jugendstil-Plakat und zu den Postkarten der Zeit flankierte Schau im Musée des Beaux-Arts von Bedeutung.

[ Bis 17. September. Katalogbuch: Le style sapin à La Chaux-de- Fonds. Une expérience Art nouveau. Hrsg. Helen Bieri Thomson. Somogy Éditions d'Art, Paris 2006. 199 S., Fr. 48.-. ]

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