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Der Stuhl als Architektur
Neue Zürcher Zeitung

Retrospektive des Möbeldesigners Poul Kjærholm im Louisiana-Museum in Humlebæk bei Kopenhagen

Dänisches Design geniesst Weltruf. Dazu beigetragen haben auch die Möbelklassiker von Poul Kjærholm (1929-1980). Dem grossen Entwerfer widmet nun das Louisiana-Museum eine Retrospektive.

14. Juli 2006 - Roman Hollenstein
Fällt der Name Poul Kjærholm, so geraten Kenner des modernen Möbeldesigns ins Schwärmen. Gibt es doch kaum einen formschöneren Stuhl als den filigranen PK 22. Bei ihm fügen sich Konstruktion, Verbindungen und Sitzgeflecht zu jener harmonischen Ausgewogenheit, die einst Christian Frederik Hansen mit seinen klassizistischen Gesamtkunstwerken in Dänemark zum gestalterischen Standard erhoben und Arne Jacobsen seit den 1920er Jahren in den modernen Alltag übergeführt hat. Gleichwohl hält man im Anfang 2006 vom Kulturministerium in Kopenhagen publizierten Kanon der dänischen Kultur vergeblich Ausschau nach einem Werk Kjærholms. Dabei zählt er zusammen mit dem Allroundgenie Jacobsen, dem Leuchtenmacher Poul Henningsen, dem Kunststoff-Magier Verner Panton und dem Sesselkünstler Hans Wegner zu den Grossmeistern der vielbewunderten dänischen Gestaltung. Der Kanon wird deshalb im Dansk Design Centrum in einer kleinen Schau auf die Design-Auswahl hin kritisch durchleuchtet. Gleichzeitig kann man in der englisch betitelten Hauptausstellung «Use it! Danish Design in Everyday Life» nicht nur neuste Gebrauchsgegenstände testen, sondern auch den Sitzkomfort der Klassiker von Wegner, Jacobsen, Panton und Kjærholm prüfen.

Klassizistische Formvollendung

Die Nähe zum Klassizismus im Sinne einer zeitlosen Vollkommenheit verdeutlicht kein anderer Entwurf Kjærholms so klar wie der faltbare Hocker PK 91 von 1961, der direkt aus einem Relief von Bertel Thorwaldsen stammen könnte, nur dass die propellerartig verdrehten Scherenbeine aus Chromstahl und der Sitz aus feinstem Leder sind. Für den 1929 in Østervr geborenen Kjærholm, der nach einer Lehre als Möbelschreiner von 1949 bis 1952 an der Kunsthndværkskolen in Kopenhagen bei Wegner studierte, standen stets natürliche Materialien wie Holz, Stahl, Leder oder Schnur im Mittelpunkt des kreativen Denkens. Damit unterschied er sich früh schon von seinen mit Kunststoffen experimentierenden Kollegen wie Panton, dessen berühmter «Panton- Chair» wohl von Kjærholms 1953 in Papiermaché und in Metalldraht ausgeführtem Entwurf für einen Gartenstuhl und von Aagaard Andersens zeitgleichem Modell für einen Freischwinger inspiriert war.

Die lange auf Innovation fixierte Rezeption der Möbelkunst führte dazu, dass Kjærholms Arbeiten in der Öffentlichkeit bisher nicht die ihnen gebührende Bekanntheit erlangt haben - auch wenn man heute in der Terminal-Halle des Flughafens von Kopenhagen auf dem PK 22 ruhen und im MoMA auf dem 1957 kreierten Tagbett PK 80 sitzend die Exponate oder die Stadtlandschaft betrachten kann. Nun hat es sich das Louisiana-Museum im nördlich von Kopenhagen gelegenen Humlebæk zur Ehrensache gemacht, den 1980 auf dem Höhepunkt seiner Karriere verstorbenen Kjærholm, der 1976 für den Konzertsaal des Hauses den Louisiana Chair, einen wohlproportionierten Klappsitz aus Holz, entwickelt hatte, mit einer ersten grossen Retrospektive einem breiteren Publikum vertraut zu machen. Diese reiht sich ein in die gewichtigen Sommerausstellungen zu Architektur und Design, in deren Rahmen bereits Jacobsen, Jean Nouvel und Jørn Utzon zum Zuge kamen.

Die im Stil der sechziger Jahre inszenierte Kjærholm-Schau kann mit wertvollen Serienmöbeln und Prototypen aufwarten. Darunter befinden sich so eigenwillige Konstruktionen wie der Polstret Stol genannte, aus zwei Teilen bestehende Dreibeiner aus gepolsterten Aluschalen von 1953, in welchem sich Handwerkskunst und Avantgardedesign mit einem ironischen Augenzwinkern vereinen. Zu welch frischen Lösungen Kjærholms Mischung aus handwerklicher Tradition und neuen Techniken führte, veranschaulichte schon seine Diplomarbeit von 1951, der PK 25, ein Sessel aus mehrfach gebogenem Stahl mit einem Sitzpolster aus Fahnenschnur, der ihn schlagartig berühmt machte und ihm eine Forschungsstelle bei der renommierten Designfirma Fritz Hansen eintrug. Dieses Frühwerk steht zusammen mit weiteren Prototypen aus dem unerhört fruchtbaren Jahr 1952 in der Abteilung «Werkstatt». Sie macht den Auftakt zu der in sechs Stationen gegliederten Schau, welche die Möbel auf Präsentationsinseln und vor Paravents zeigt und so auf Kjærholms legendäre Ausstellungseinrichtungen der sechziger und siebziger Jahre verweist.

Im anschliessenden «Fabrik»-Raum begegnet man Prototypen, Zeichnungen und Entwürfen - etwa für den aus zwei organisch geformten Holzteilen zusammengefügten PK 0 von 1952, der von Kjærholms Interesse am sechs Jahre zuvor von Charles Eames ebenfalls in Holz ausgeführten LCW-Stuhl zeugt. Unter dem Stichwort «Montage» werden dann all jene Stühle, Sessel oder Tische, die Kjærholm zur Kultfigur machten, bis auf ihr Skelett aus Stahl oder Holz entblösst und Einblicke in den streng architektonischen, von Funktion und Modell ausgehenden Entwurfsprozess gewährt. Im «Handwerk»-Bereich wird anschliessend die sorgfältige Herstellung von Lederpolster und Rohrgeflecht - beispielsweise der berühmten Liege PK 24 von 1965 - zelebriert, die die Möbel des Dänen so kostspielig machen.

Architektonische Konstruktionen

Dass die klassische Aura von Kjærholms Möbeln nicht zuletzt von der gestalterischen Beschränkung auf primäre geometrische Formen herrührt, veranschaulicht die Abteilung «Elemente» am Faltstuhl PK 91, am Rundhocker PK 33, am würfelförmigen Beistelltisch PK 71 oder am modularen Vitrinensystem von 1971. Dem gingen die Schaukastenentwürfe für die dänische Kunsthandwerks-Ausstellung von 1957 voraus. Hier begann Kjærholms Suche nach dem idealen Raum, den er bald schon im dänischen Beitrag für die Mailänder Triennale von 1960 und im leider nicht realisierten Entwurf für die Möblierung des John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington (1967) formulierte. Solchen Inszenierungen ist das Schlusskapitel «Raum» gewidmet, in welchem man erfährt, wie Kjærholm, der bereits in den fünfziger Jahren in einem Essay die Wichtigkeit des Zusammenklingens von Körper, Material und Raum betonte, mit Möbeln, wandgrossen Fotos und Stellwänden schwebend leichte Installationen gestaltete.

Ebenso makellos wie die architektonisch gedachten Arbeiten Kjærholms präsentiert sich auch die Ausstellung. Weder Querverweise auf die Entwicklungen in der damaligen Designerszene noch eine kritische Annäherung an die späten, formal stärker vom Zeitgeist beeinflussten Möbel stören das Bild. Denn mittlerweile gelten Kjærholms schwere, weniger zeitlose Holzstühle und Freischwinger als Ikonen der Seventies. Als solche sind sie hoch im Kurs, wie jüngst erst die «Design Miami»-Messe in Basel zeigte.

[ Die Kjærholm-Ausstellung im Louisiana-Museum in Humlebæk dauert bis zum 24. September. Katalog: Poul Kjærholm. Furniture Architect (englisch). Hrsg. Michael Sheridan. Louisiana- Museum, Humlebæk 2006. 224 S., dKr. 348.-. - Die Ausstellung «Use it! Danish Design in Everyday Life» im Dansk Design Centrum in Kopenhagen dauert bis zum 1. November. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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