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Weltreise durch die Megastädte von morgen
Neue Zürcher Zeitung

Die 10. Architekturbiennale von Venedig

Der Londoner Architekt und Stadtplaner Richard Burdett ist Kurator der diesjährigen Architekturbiennale von Venedig. Für einmal huldigt der Grossanlass, der an diesem Wochenende eröffnet wird, nicht baulichen Preziosen, sondern beleuchtet die Probleme der Megastädte.

9. September 2006 - Hubertus Adam
Heute lebt die Hälfte der auf 6,5 Milliarden Menschen geschätzten Erdbevölkerung in Städten. Im Jahr 2050 dürften es 75 Prozent der dannzumal 8,5 Milliarden Erdbewohner sein. Dadurch entstehen nicht nur mehr, sondern auch immer grössere Städte. Der Grossraum Tokio, heute mit 35 Millionen Menschen der bedeutendste der Welt, wird 2050 einwohnermässig von Bombay überholt werden. Boomstädte entstehen vor allem in Süd- und Ostasien sowie auf der südlichen Hemisphäre, während die europäischen Grossstädte zwar einen Attraktivitätsgewinn verbuchen können, aber nur mehr geringfügig wachsen. Einen Überblick über die globale Verstädterung zu geben und zur Einflussnahme auf die unvermeidlichen Prozesse aufzurufen, ist das Ziel der 10. Architekturbiennale von Venedig, die unter dem Titel «Città. Architettura e società» an diesem Wochenende ihre Pforten öffnet. Kuratiert und konzipiert wurde sie von dem Londoner Architekten und Stadtplaner Richard Burdett, der an der London School of Economics lehrt und als Berater des Mayor of London tätig ist.

Globale Verstädterung

Der Gegensatz zwischen der jetzigen Schau und der von Kurt Forster in Rauminstallationen von Hani Rashid präsentierten Biennale 2004 könnte kaum grösser sein. Burdett hat die 300 Meter lange Halle der Corderie in lockere Kojen gegliedert, die jeweils einer Stadt gewidmet sind. So begeben sich die Besucher auf eine Weltreise. Sie führt von Süd- nach Nordamerika (São Paulo, Caracas, Bogotá, Los Angeles, New York), dann über Afrika (Kairo, Johannesburg) nach Europa (Berlin, London, das Städtedreieck Mailand - Turin - Genua, Istanbul) und Asien (Bombay, Schanghai, Tokio). Es ist eine Ausstellung über Statistik, über die Entwicklung der Gesellschaft und die Form der Städte. Dank pointiert eingesetzten Informationen und exzellentem Ausstellungsdesign (Cibic & Partners zusammen mit dem Grafikbüro Fragile) gelingt der schwierige Spagat zwischen möglicher Kürze und nötigem Tiefgang. Projektionen, Luftbilder, Karten und Grossfotos zeigen die Strukturen der Städte, Texte und Grafiken verdeutlichen die Probleme, und schliesslich werden kurz einige vorbildliche architektonische Interventionen vorgestellt.

Dabei geht es weniger um Hochglanzarchitektur als vielmehr um oft bescheidene, aber wirkungsvolle urbane Interventionen - etwa ein Programm für öffentliche Toiletten in Bombays Spontansiedlungen oder um jene vom Caracas Urban Think Tank realisierte vertikale Sporthalle an der Grenze zwischen Slum und formaler Stadt, welche die Kriminalität in der Gegend um 45 Prozent gesenkt hat. Aber es finden sich auch Projekte wie die Transformation des New Yorker «High Line»-Eisenbahntrassees durch Diller & Scofidio oder die Visionen von Kees Christiaanses Büro KCAP für Londons Osten. Am Ende der Stadtpräsentationen stellt Burdett die Frage «Can we change the world?». Er nennt fünf Interventionsfelder, die gleichsam das Destillat der Weltreise darstellen. So unterschiedlich die jeweilige Ausgangslage auch sein mag, sind doch die essenziellen Forderungen an die Metropolen des 21. Jahrhunderts gleich: eine Architektur der Inklusion (und nicht der Segregation), ein funktionierendes Transportsystem, nachhaltiger Städtebau, allen zugängliche öffentliche Räume und schliesslich «good governance».

Nach Jahren sich im Formalästhetischen erschöpfender Biennalen - selbst Massimiliano Fuksas hatte im Jahr 2000 sein Motto «Less Aesthetics, more Ethics» nicht einlösen können - veranstaltet Burdett eine Schau, die sich den Problemen der Gegenwart widmet. Da wird man einige Schwächen verzeihen: Das Kapitel Berlin etwa fällt etwas gar kümmerlich aus, und eine postsowjetische Stadt hätte den Reigen durchaus bereichert. Dass Norditalien über Gebühr präsentiert wird und Renzo Piano seinen Masterplan für die Entwicklung des Hafens von Genua in maximalen Dimensionen präsentieren darf, mag dem veranstaltenden Land geschuldet sein. Auf dessen Konto geht auch die von Claudio D'Amato Guerrieri aus Bari kuratierte Ausstellung «Città di Pietra» in den Artiglierie, die unreflektiert faschistisches Bauen mit Wettbewerben für neue Steinarchitekturen im Süden des Landes konfrontiert und ein einziges Ärgernis darstellt.

Im italienischen Pavillon in den Giardini setzt Burdett seine Schau fort. Es dominiert nicht mehr die kuratorische Stringenz; vielmehr dürfen hier ausgewählte Forschungsinstitute ihre Ergebnisse präsentieren. Nicht allen gelingt ein sinnvoller Umgang mit der Ökonomie der ausstellerischen Mittel und damit ein wirkungsvoller Beitrag. Das von der deutschen Kulturstiftung des Bundes finanzierte Projekt «Shrinking Cities», das - ausgehend von der Situation in Ostdeutschland - die Schrumpfung von Städten untersucht hat, zählt ohne Zweifel zu den wichtigsten urbanistischen Forschungsunternehmungen der letzten Jahre. Die Wände mit einigen Fotos maroder Plattenbauten zu tapezieren und die (unbestritten hervorragenden) Publikationen auszulegen, ist jedoch für eine Architekturbiennale zu wenig. Ähnlich uninspiriert wirkt das Gastspiel des ETH-Studios Basel. Das Berlage Institut aus Rotterdam hingegen schafft eine kommunikative Atmosphäre, stellt aber vor allem sich selbst ins Zentrum. Die Präsentation «Gulf City» von OMA/AMO über die Arabischen Emirate wirkt etwas unfertig; hier muss man auf die Publikation warten, die - ebenso wie die Lagos-Studie - im Herbst bei Lars Müller erscheinen wird.

Länderreigen in den Giardini

Wie üblich, hinterlässt ein Rundgang durch die Pavillons gemischte Gefühle. Die Wahl der Schweizer Auswahlkommission fiel auf Bernard Tschumi, der den Entwurf für ein «Elliptic City» genanntes internationales Finanzhandelszentrum in der Dominikanischen Republik präsentiert. Dabei lässt er die Besucher an den Überlegungen teilhaben, die sich einem Stararchitekten stellen, wenn er mit der Aufgabe konfrontiert wird, ein «globalisiertes» Raumprogramm in einem lokalen, von der Natur geprägten Umfeld zu placieren. Wie sich Tschumis strukturelles Denken in der Realität bewähren wird, bleibt angesichts des derzeitigen Bearbeitungsstandes offen.

Für den deutschen Pavillon zeichnen die Berliner Architekten Grüntuch Ernst verantwortlich. In eher unübersichtlichen Tischvitrinen präsentieren sie Konversions- und Umbauprojekte und machen überdies mit einer rot umhüllten Treppe das Dach des 1938 errichteten NS-Baus zugänglich. Mit zwei nachgebauten Modellen historischer Projekte - eines von Hans Hollein in die Landschaft integrierten Flugzeugträgers (1964) und von Friedrich Kieslers Raumstadt von 1925 - brilliert Österreich, während Spanien sich dem weiblichen Blick auf die Stadt widmet. Die USA stellen Projekte für den Wiederaufbau von New Orleans vor, und Israel zeigt die strukturellen Modelle von 16 Gedenkstätten. Zu den attraktivsten Länderbeiträgen zählt der irische, der Bezüge zwischen Bevölkerungswachstum und Umweltproblemen aufzeigt. Den lebendigsten Ort haben die Franzosen geschaffen, die ihren Pavillon durch die anarchische Architektengruppe Collectif Exyzt bespielen lassen. Einbauten machen das Gebäude bewohnbar: Links schlafen die Aktivisten, auf dem Dach duschen sie. In der Mitte stehen Küche und Speisesaal, in welchem sich Besucher und Bewohner vermischen - mit so einfachen Mitteln entsteht Gemeinschaft.

[ Bis 19. November. Doppelkatalog: Cities - Architecture and Society. Marsilio Editori, Venedig 2006. 388 und 200 S., Euro 60.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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