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Baukünstlerische Höhenflüge
Neue Zürcher Zeitung

Alternativen zur Architekturbiennale in Buchform

12. September 2006 - Roman Hollenstein
Immer mehr Architekten fühlen sich als Künstler. Dies lässt sich nirgends so gut ablesen wie an den Kulturbauten, die mit skulpturalen Formen oder dramatischen Raumfolgen ihren Inhalt ganz bewusst zu überbieten trachten. Ikonen wie Frank Gehrys Guggenheim Museum in Bilbao, Jean Nouvels KKL, Daniel Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin, Zaha Hadids «Phæno»-Center in Wolfsburg oder Ben van Berkels Mercedes-Benz- Museum in Stuttgart, die oft nur ihrer Architektur wegen besucht werden, gelten als Hauptfaktoren des Städtetourismus und der Standortgunst. Doch solche baukünstlerische Höhenflüge können nicht darüber hinwegtäuschen, dass selbst in führenden Architekturnationen wie der Schweiz, den Niederlanden oder Spanien die gebaute Wirklichkeit im besten Fall Mittelmass darstellt, dieweil man die Meisterwerke suchen muss.

Verführerische Bauwerke

Es liegt nicht allein an dieser Unstimmigkeit, dass die neuste Architekturbiennale, die am vergangenen Sonntag in Venedig ihre Tore öffnete, vom Kult der Einzelbauten wegzukommen und das Augenmerk vermehrt auf die Stadt und deren Sorgen zu richten sucht. Unter der Leitung des Londoner Architekten und Stadtplaners Richard Burdett will sie darlegen, wie sekundär Aspekte der architektonischen Ästhetik verglichen mit den Herausforderungen und Chancen sind, welche die rasante Verstädterung mit sich bringt. In einer Welt, in der es bald Dutzende von Megastädten mit über 20 Millionen Einwohnern geben soll, muss über die urbane Zukunft nachgedacht werden - und dennoch fragt man sich, ob der Grossanlass in der Lagune ein Publikum, das auf visuelle Reize und nicht auf Belehrung aus ist, befriedigen oder gar fesseln kann.

Als Alternative zur eher faktenorientierten Architekturbiennale bietet sich den Liebhabern kunstvoller Bauten die Möglichkeit, gleichsam vom Sofa aus die neusten Highlights zu besichtigen: weltweit in Form einer heiteren Blütenlese oder - etwas reflektierter - auf virtuellen Reisen durch Grossbritannien, Japan, die Niederlande und die Schweiz. Möglich wird dies dank zwei Serien reich bebilderter, vom Kunst- und Architekturpublizisten Philip Jodidio im Taschen-Verlag herausgegebener Übersichtswerke. Von der 2001 gestarteten Reihe «Architecture Now» liegt bereits der vierte Band vor. Er zeigt 83 neue Arbeiten von 73 Architekten. Erhellen die einen Gebäude die Bezüge zwischen Architektur und Kunst, so loten andere das ökologische Potenzial des Bauens aus. Die nüchterne Kiste muss dabei immer öfter zerklüfteten neokubistischen Kreationen oder biomorphen Archiskulpturen weichen. Denn das Publikum sehnt sich ganz offensichtlich nach komplexen Gebilden wie der Seattle Central Library von Rem Koolhaas oder nach verspielten Anlagen wie dem Dalki-Themenpark von Moongyu Choi im südkoreanischen Paju.

Überbordender Bilderreigen

An diesem Kokettieren mit dem schönen Schein kann sich die solide Schweizer Baukunst höchstens mit den Kultbauten von Herzog & de Meuron in München, Minneapolis und San Francisco beteiligen. Wer mehr über die hiesige Szene erfahren will, greift deshalb zum Band «Architecture in Switzerland». Neben Arbeiten international bekannter Grössen wie Roger Diener oder Peter Zumthor finden sich so unterschiedliche Bauten wie die buntfarbene Primarschule in Rolle von Devanthéry & Lamunière aus Genf oder der über einem Glassockel schwebende Kupferquader von Aldo Celorias Villa Travella in Castel San Pietro. Da auch hier verführerische Bilder die Botschaft überbringen müssen, kommt etwa der Zürcher Wohnungsbau, der wichtigste Beitrag der Limmatstadt zur Schweizer Architektur der letzten Jahre, nicht mit seinen innovativsten Beispielen zum Zug, sondern mit der neoexpressionistischen Siedlung Broëlberg von E2A und der «Wallpaper»-Extravaganz eines Hauses am Üetliberg von Fuhrimann Hächler. Dennoch gibt der Querschnitt einen gültigen Einblick in die sich allmählich von der «Schweizer Kiste» lösende Baukunst unseres Landes, dessen architektonische Psychologie Jodidio in der kurzen Einführung erstaunlich gut trifft.

Ähnlich repräsentativ ist der Band «Architecture in the United Kingdom», der wie alle Publikationen dieser neuen Serie knapp 30 Arbeiten von rund 15 Büros in einem Bilderreigen vorführt. Nicht zu übersehen ist eine gewisse baukünstlerische Erstarrung im Inselreich, wo noch immer die beiden Lords - Norman Foster und Richard Rogers - das Sagen haben. Auch wenn der bald 60-jährige Exzentriker Will Alsop die Popkultur von Archigram in die Gegenwart hinüberretten will, gehen derzeit die interessantesten Impulse von Architekten aus, die von überall her nach London streben. Während das iranisch-spanische Duo FOA in seiner neuen Wahlheimat erst Projekte vorweisen kann, ist der aus Tansania stammende David Adjaye mit seinen Idea Stores bereits zum Idol der Jungen geworden.

Selbst in den Niederlanden, dem «Hollywood der Architekten», ist eine gewisse kreative Stagnation auszumachen. Das können die geheimnisvoll im Wasser sich spiegelnden «5 Sphinxen» von Neutelings Riedijk in Huizen oder das wie in einem Eissturm erstarrte Rathaus von Erick van Egeraat in Alphen aan den Rijn ebenso wenig überspielen wie die Neustadt Almere, in der neben dem Vordenker Rem Koolhaas auch Nachwuchsarchitekten tätig sind. Diese stehen jedoch meist im Bann der übergrossen Vorbilder oder dann der neusten Moden, wie der deutlich an Koolhaas' Rotterdamer Kunsthal inspirierte Teepavillon von SeARCH in Rheden oder die Blob-Architektur von Nox zeigen.

Japan hingegen scheint aus seiner Krise herauszufinden. Neben Fumihiko Maki, Arata Isozaki oder Tadao Ando, den vielbeschäftigten Vertretern der «grauen» Neo- und Postmoderne, konnten jüngst die angesehenen Büros von Toyo Ito und Sanaa wichtige Aufträge realisieren, darunter die Flagship-Stores grosser Modefirmen. Diese erlauben es ihnen genauso wie ihrem Kollegen Jun Aoki, den baukünstlerischen Luxus zu thematisieren. Mit Kulturbauten beweisen sich schliesslich einige jüngere Architekten: Takaharu und Yui Tezuka mit dem klosterartigen Museum für Naturwissenschaften in Matsunoyama oder Makoto Yokomizo mit dem camouflierten, von Mies van der Rohe beeinflussten Tomihiro- Kunstmuseum in Azuma. Im Häuserbrei der endlosen japanischen Stadtlandschaften kommt diesen Juwelen nicht zuletzt die wichtige Aufgabe von städtebaulichen Katalysatoren zu.

[ Philip Jodidio: Architecture Now. Band 4. Taschen-Verlag, Köln 2006. 575 S., Fr. 50.-. ]

[ Architecture in Japan; Architecture in the Netherlands; Architecture in Switzerland; Architecture in the United Kingdom. Alle vier Bände: Hrsg. Philip Jodidio. Taschen-Verlag, Köln 2006 (dreisprachig: dt., engl., frz.). Je 192 S., Fr. 35.-. ]

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