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Patchwork-Urbanismus
Neue Zürcher Zeitung

Die Zukunft der Metropolen als globale architektonische Herausforderung

Die Metropolen der Welt wachsen, aber es sind auch Schrumpfungsprozesse zu beobachten. Die Zeit allumfassender Visionen und homogener Szenarien ist vorbei. Zu dieser Feststellung gelangt auch die Architekturbiennale, die derzeit in Venedig über die Bühne geht.

7. Oktober 2006 - Hubertus Adam
Die globale Verstädterung ist das Thema der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig. Rapide wachsende Boomstädte, ob im Fernen Osten oder auf der Südhalbkugel, stellen Urbanisten vor neue Herausforderungen. Die eigentlichen Probleme sind dabei nicht primär urbanistischer oder gar architektonischer Natur, sondern berühren den sozialen Sektor. Richard Burdett als Kurator der Biennale lässt seine Ausstellung daher in Postulate münden; er fordert Architektur, die sich dem Ausschliessen von Bevölkerungsteilen verweigert, ein leistungsfähiges öffentliches Verkehrssystem, nachhaltigen Städtebau, öffentliche Räume für alle - und schliesslich eine verantwortungsvolle Regierung. So begrüssenswert die Postulate auch sind, so wenig konkret bleiben sie, wenn man derart unterschiedliche Städte wie Los Angeles, São Paulo, Berlin oder Schanghai miteinander vergleichen will.

Scrumpfung als Chance?

Natürlich ist die Entwicklung von Städten durch eine spezifische Gemengelage unterschiedlicher Faktoren bestimmt. Ohne Zweifel aber lässt sich London leichter mit Paris oder mit Mailand vergleichen als mit Peking oder Lagos. Der entscheidende Unterschied besteht in der demographischen Entwicklung: Während die Metropolen der hochentwickelten Industriestaaten nur ein geringes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen haben, mitunter auch stagnieren oder gar schrumpfen, erleben die wahren Boomtowns eine Bevölkerungsexplosion. Das rapide Wachstum von Städten wie Mumbai - im Jahr 2050 mit 40 Millionen Einwohnern vermutlich der grösste Agglomerationsraum der Welt - erinnert an Entwicklungen, wie sie die europäischen Metropolen im Verlauf des 19. Jahrhunderts erlebt haben. Die Londoner Slums, die etwa Charles Dickens beschrieb, haben ihre Nachfahren in den Favelas von Caracas und Mexiko-Stadt gefunden.

Kriege, Naturkatastrophen und Epidemien haben in der Menschheitsgeschichte immer wieder zur Entvölkerung von Städten und Landstrichen geführt; eines der jüngsten Beispiele hierfür (und überdies für ein Versagen des Katastrophenmanagements auf politischer Ebene) ist die Zerstörung von New Orleans im Sommer 2005 durch den Wirbelsturm «Katrina». Doch hat das Thema des Schrumpfens in den vergangenen Jahren insbesondere vor dem Hintergrund eines ökonomischen Strukturwandels öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Aus dem mehrjährigen Forschungsprojekt «Shrinking Cities», finanziert von der deutschen Kulturstiftung des Bundes, sind zwei von voluminösen Begleitpublikationen flankierte Ausstellungen und unlängst ein informativer «Atlas der schrumpfenden Städte» hervorgegangen. Dass das Projekt von Deutschland ausging, ist kein Wunder: Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung des Landes leiden die ostdeutschen Städte massiv unter Abwanderung. Letztlich verbirgt sich dahinter ein postindustrieller Strukturwandel, wie ihn auch das Ruhrgebiet erlebt und bis heute nicht völlig verwunden hat - mit dem Unterschied, dass durch die Abschottung der DDR eine letztlich nicht wettbewerbsfähige Ökonomie über eine viel längere Zeit künstlich am Leben erhalten wurde als die ebenfalls subventionierte Montanindustrie in Westdeutschland.

Nach der Lektüre der «Shrinking Cities»- Bücher, aber auch nach Gesprächen mit den Protagonisten des Projekts bleibt eine gewisse Ratlosigkeit. Umfangreiche Analysen der heutigen Situation - die Autoren beschränken sich nicht auf Deutschland, sondern thematisieren schrumpfende Regionen weltweit - können nicht darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich niemand tragfähige und überzeugende Ideen für schrumpfende Städte und Regionen hat. Immerhin gibt es Ansätze. «Raumpioniere» heisst eine weitere, von dem Berliner Landschaftsarchitekten Klaus Overmeyer erstellte Studie, die demnächst als Buch erscheint. Dokumentiert werden all jene Zwischennutzungen, mit denen urbane Restflächen in Berlin in Beschlag genommen werden. Dabei kann es sich um improvisierte Strandbars am Spreeufer, Golfanlagen in der Innenstadt, Ponyfarmen auf der Stadtbrache oder informelle Partykultur handeln. Undeterminierte Räume besitzen ein grosses Potenzial, und auch wenn manche Zwischennutzungen noch der Aussteigerideologie der siebziger Jahre verhaftet sind, so geschieht inzwischen vieles, was als Ankerpunkt neuer Mikroökonomien taugt.

Nicht wenigen informellen Zwischennutzungsprojekten eignet eine Tendenz zur Institutionalisierung, und so stossen sie verstärkt auf das Interesse lokaler Behörden oder Investoren. Allerdings siedeln sich «Raumpioniere» nur dort an, wo sich ohnehin ein urbanes, zumeist junges Publikum befindet. In Berlin sind trendige innerstädtische Quartiere wie die Stadtteile Mitte, Kreuzberg oder Friedrichshain beliebt, während der Aussenbezirk Marzahn-Hellersdorf wenig Attraktivität besitzt. Ähnlich verhält es sich mit den Städten untereinander: Berlin und im geringeren Masse auch Leipzig sind die Städte Ostdeutschlands, in denen informelle Stadtnutzungen erprobt werden, während in anderen Gebieten schlicht die für das Funktionieren derartiger Strukturen nötige kritische Masse fehlt.

Zukunft der europäiscen Stadt

Schrumpfen bedeutet, ökonomisch betrachtet, das Nachlassen des Verwertungsdrucks auf Immobilien. Ausschlaggebend dafür ist ein Überangebot an Grundfläche oder an Liegenschaften. Das führt mitunter zu der Annahme, das Schrumpfen der Städte erlaube es, urbanistische Verfehlungen vergangener Jahrzehnte zu korrigieren. Insbesondere, so liesse sich vorschnell vermuten, könnte man der funktionalen Segregation der Städte entgegenwirken, die inzwischen zumeist dem Kommerz und allenfalls Freizeitnutzungen vorbehaltenen Innenstädte zu reanimieren und zugleich den Suburbanisierungstendenzen entgegenzusteuern, durch die viele europäische und nordamerikanische Städte seit der automobilen Ära der fünfziger Jahre Bevölkerungs- und natürlich auch Steuerverluste erlitten haben. Ob derlei Strategie aufgeht, ist mehr als fraglich: Denn wo Grundstücke brach fallen, fehlt es an Attraktivität und damit auch am Wunsch, in die Stadt zurückzukehren.

Wo Städte Anziehungskraft besitzen, sinkt der Verwertungsdruck kaum. Immerhin werden mancherorts in Deutschland Szenarien erprobt, die mit den bisherigen Stadtvorstellungen kaum als kompatibel galten. In Leipzig läuft ein erfolgreiches Programm, unbebaute Brachflächen in Gründerzeitquartieren zu parzellieren und als Kleingärten an die Wohnbevölkerung der Nachbarschaft zu verpachten; in Hannover ist auf dem innerstädtischen Gelände einer früheren Brauerei ein Reihenhausquartier entstanden, wie man es sonst nur am Stadtrand findet. Derartige Beispiele belegen, dass eine Zukunft der europäischen Stadt vielleicht jenseits eingefahrener Wege zu finden ist. Zumindest scheinen die antithetischen Droh- und Hoffnungsszenarien der neunziger Jahre ausgedient zu haben: Weder ist es gelungen, urbane Agglomerationen im Sinne einer kompakten «europäischen Stadt» zu verdichten, noch blieb der Trend zur Suburbanisierung unbestritten. Die Zukunft gehört wohl eher einem Patchwork-Urbanismus, bei dem Stadtquartiere unterschiedlicher Dichte und heterogenen ökonomischen Potenzials koexistieren. Schrumpfen und wachsen schliessen einander nicht aus.

Kultur als urbaner Generator

Tatsächlich gibt es parallel zu Schrumpfungsprozessen bestimmte Tendenzen, die auf ein Wiederaufleben von Metropolen deuten. Ein Indikator dafür ist der «Bilbao-Effekt». Seit der Eröffnung des von Frank O. Gehry entworfenen Guggenheim-Museums zählt die zuvor international kaum positionierte baskische Industriestadt zum absoluten Must auf der Agenda globaler Kulturtouristen. Der Boom der Stadt hat sich keineswegs als Strohfeuer erwiesen, der Strom der Besucher dauert an, wenn auch mit verminderter Intensität. Selbstverständlich bedurfte es einer Reihe weiterer flankierender Massnahmen und nicht des Museums allein - Tatsache aber ist, dass die Umwegrentabilität durch Investitionen in den Kultursektor durchaus ein funktionierendes Modell für die Belebung von Städten sein kann.

Bestes Beispiel hierfür ist London, das sich als wichtigste Finanzdrehscheibe Europas etabliert hat. Mit der Umwidmung der früheren Bankside Power Station zur Tate Modern ist auch die Regeneration des der City gegenüberliegenden südlichen Themseufers gelungen. Tatsächlich hat hinsichtlich Besuchergunst die Tate Modern längst allen anderen Museen für zeitgenössische Kunst weltweit den Rang abgelaufen: 4,1 Millionen Kunstliebhaber und Zaungäste besuchten im Vorjahr den von Herzog & de Meuron umgebauten Ziegelsteinkoloss des Architekten Giles Gilbert Scott, lediglich 2,67 Millionen das MoMA in New York und 2,5 Millionen das Centre Pompidou. Damit ist die Rechnung, welche die Berater von McKinsey 1994 der Stadt und dem Borough of Southwark gemacht haben, längst aufgegangen: Die Tate Modern, so liess man seinerzeit verlauten, werde 2400 neue Arbeitsplätze nach sich ziehen und der Stadt jährliche Mehreinnahmen von bis zu 90 Millionen Pfund verschaffen, wovon ein Drittel Southwark zugute käme. Zumindest in seinen themsenahen Bereichen ist Southwark inzwischen ein Boombezirk sondergleichen.

Inzwischen setzen viele Städte auf Kultur als urbanen Generator - nicht zuletzt in den USA. Minneapolis versucht mit dem Walker Art Center von Herzog & de Meuron, dem Guthrie Theater von Jean Nouvel und weiteren Kulturbauten sein Zentrum zu reaktivieren; in Boston soll das kurz vor der Eröffnung stehende Institute of Contemporary Art der New Yorker Architekten Diller & Scofidio zur Wiederbelebung der stadtnahen Hafenbrachen beitragen. Aber auch kleinere Städte haben das Potenzial der Label-Architektur erkannt - etwa Des Moines im Westen von Iowa. Hier wurde unlängst eine Bibliothek von David Chipperfield eröffnet, welche dem von Grossparkplätzen, aseptischen Bürohäusern und einigen verbliebenen historischen Bauten bestimmten Stadtkern neues Leben einhauchen soll.

Wohnen in den Städten

Städte wie Boston, dessen Downtown von einem schier endlosen Gürtel aus Brachflächen umgeben ist, zeigen die verheerenden Auswirkungen jahrzehntelanger Tendenzen zur Suburbanisierung. Wer immer es sich leisten kann, wohnt in einer der reichen Vorortgemeinden. Wenn auch in schwächerem Ausmass, lassen sich vergleichbare Prozesse auch in Europa diagnostizieren. Inwieweit es gelingen kann, die abgewanderte Bevölkerung zurückzugewinnen, darüber wird derzeit noch gestritten. «10 000 Wohnungen in zehn Jahren» heisst beispielsweise das Wohnungsbauprogramm der Stadt Zürich. Ziel ist primär die Schaffung grosszügiger Wohnungen, um die Abwanderung einer urbanen Klientel zu verhindern. Tatsache ist allerdings, dass der Erfolg der Massnahme durch die sukzessive gestiegene Pro-Kopf- Wohnfläche relativiert wird.

Genossenschaften erleben mit unkonventionellen Wohnkonzepten in der Schweiz eine Renaissance, in Deutschland etablierten sich sogenannte Baugruppen oder Baugemeinschaften: Mehrere Interessenten tun sich zusammen, suchen sich einen Architekten und realisieren gemeinsam ein Bauvorhaben. Baugruppen entstehen aus Pragmatismus; zu Visionen kollektiven Wohnens, wie sie die siebziger Jahre prägten, wahren sie Distanz. Und noch etwas ist ermutigend: In vielen europäischen Städten entstehen neue, zumeist hochwertige Wohnquartiere in zentraler Lage, beispielsweise die «Hafen City» in Hamburg. Bedenklich ist dabei der Trend, dass manche Städte allein die Bereiche entwickeln, die sich imagekompatibel vermarkten lassen, während an Interventionen in Problemstadtteilen nur wenig Interesse besteht. Dieser Inselurbanismus befördert Tendenzen zur Segregation, die überall auf der Welt stärker sind als in Europa.

Das eigentliche Erfolgsmodell des Wohnens stellt derzeit die Gated Community dar. In Städten mit hoher Kriminalitätsrate, etwa São Paulo, mögen auf Abschottung beruhende Wohnkonzepte plausibel sein. Der Erfolg von Gated Communities beruht aber nicht auf realer, sondern auf gefühlter Bedrohung - und überdies auf Lifestylekompatibilität. Beinahe sämtliche Wohnungen für den neuen chinesischen Mittelstand werden in Form von zugangskontrollierten Apartmentkomplexen errichtet, deren Zweck es ist, Sozialprestige zu vermitteln. Das gleiche Bild auch in Moskau oder Mumbai: Stadtteile als Konglomerate unverbundener Wohneinheiten. Auch das ist eine Form von Patchwork-Urbanismus.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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