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Swinging Germany
Der Standard

Am 18. Oktober erhielt der deutsche Architekt Frei Otto von der Japan Art Association den als „Nobelpreis der Künste“ gehandelten Praemium Imperiale.

28. Oktober 2006 - Roland Pawlitschko
Vor vier Jahren wurden die Leser einer deutschen Publikumszeitschrift zum Thema Planen und Bauen in einer Umfrage nach den besten Bauten Deutschlands gefragt. Die Teilnehmer konnten dabei aus einer Liste von knapp 400 architektonisch herausragenden Gebäuden quer durch alle Epochen auswählen oder eigene Vorschläge machen. Sieger dieses Konkurrenzverfahrens war nicht Schloss Sanssouci in Potsdam (Platz 2) oder die Stuttgarter Weissenhofsiedlung (Platz 8). Die meisten Stimmen erhielt das Münchener Olympiastadion.

Nun ist diese Umfrage mit nur knapp tausend Teilnehmern alles andere als repräsentativ. Auch dürfte die Wahl des Stadions keineswegs eindeutig auf der bauhistorischen Bedeutung der zwischen 1968 und 1972 entwickelten, die Haupttribüne überspannenden Seilnetzkonstruktion basieren, sondern vor allem auf den verklärten Erinnerungen an die Olympischen Sommerspiele 1972. Dennoch wird gerade mit dieser Umfrage deutlich, weshalb der heute 81-jährige Architekt und Konstrukteur Frei Otto - der geistige Vater dieser Konstruktion- zu den bedeutendsten Architekten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt: Nur wenigen Architekten ist es nämlich gelungen, ihre Werke gleichermaßen fest in der Gesellschaft und in der Baugeschichte zu verankern.

Erstmals aufmerksam wurde die Fachwelt auf Otto im Jahr 1955, als er für die Bundesgartenschau in Kassel drei temporäre Membranbauten entwarf, insbesondere den als Vierpunktsegel konzipierten Musikpavillon. Im Gegensatz zur massiven und bodenverhafteten Schwere der durchaus noch präsenten Architektur der NS-Zeit zeigte die an je zwei Kiefernmasten und Bodenpunkten abgespannte und nach allen Seiten offene Zeltkonstruktion eine geradezu lässige Eleganz und Leichtigkeit.

Nicht zuletzt, weil sich darin der Geist der Wirtschaftswunderjahre spiegelte, erhielt Otto im Anschluss immer wieder Gelegenheit, ähnliche temporäre Bauwerke zu realisieren. Dass deren Größe und Komplexität dabei kontinuierlich zunahm und kaum eine Konstruktion der anderen glich, hatte seinen guten Grund. Sie alle waren gewissermaßen nur Zwischenergebnisse seiner systematischen, stets aber ungerichteten und vor allem interdisziplinären Grundlagenforschung zum Thema Leichtbau.

In großem Umfang zur Anwendung kamen die daraus gewonnenen Ergebnisse erstmals bei der Seilnetzkonstruktion des deutschen Pavillons auf der Weltausstellung 1967 in Montreal. Mit diesem Projekt, von den Kanadiern liebevoll als „Swinging Germany“ bezeichnet, gelang Frei Otto schließlich der internationale Durchbruch. Bereits ein Jahr zuvor erfolgte auf dem Universitätscampus in Stuttgart Vaihingen der Bau eines 1:1 Ausschnittmodells, welches unerlässlich war, um den in Montreal bevorstehenden, bislang völlig unerprobten Montagevorgang im Voraus zu testen und die an kleinen Messmodellen gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen. Später fungierte dieser Versuchsbau als Institutsgebäude des 1964 eigens für ihn eingerichteten „Instituts für leichte Flächentragwerke“, eine von Studenten und Forschern aus aller Welt rege besuchte Experimentierwerkstätte.

Pionierleistungen erbrachte Frei Otto aber nicht nur auf dem Gebiet von hängenden, sondern auch von druckbeanspruchten Konstruktionen - wie etwa bei der 1975 fertig gestellten Holz-Gitterschale der walfischbauchartig amorphen Multihalle in Mannheim. Die sonst zur Form- und Konstruktionsfindung angefertigten hängenden Kettennetze wurden in diesem Fall auf den Kopf gestellt, um daraus - als Umkehrform - eine Stab- werkskuppel zu erhalten.

So beispiellos und unkonventionell diese und spätere Flächentragwerke aber auch immer anmuten, keinesfalls haben diese etwas mit eitler Konstruktionsakrobatik zu tun. Wie ein roter Faden zieht sich stattdessen die Vision einer material- und energiesparenden, mobilen und anpassungsfähigen Architektur durch sein Werk. Oberstes Ziel ist es, durch Architektur ein Leben mit der Natur zu ermöglichen, welches sowohl den Bedürfnissen der Menschen, als auch der Ökologie entspricht. In diesem Zusammenhang wurde Frei Otto oft als Verfechter der Bionik - dem technischen Lernen von der Natur - dargestellt, obwohl er sich selbst als deren größter Kritiker betrachtet.

Insbesondere den Seilnetzkonstruktionen wird noch heute oft angedichtet, auf der Untersuchung von Spinnennetzen zu beruhen. „Das ist eine Lüge, denn es war genau umgekehrt. Tatsächlich kamen die größten Spinnenforscher der Welt zu uns und wollten ihre Spinnennetze erklärt haben, nachdem wir die großen Netzstrukturen zuerst in Montreal und dann in München gebaut hatten“, sagte er hierzu erst kürzlich in einem Interview und bezeichnet dieses Phänomen als „umgekehrten Weg.“ Tatsächlich kann der Mensch in der Natur nämlich nur das entschlüsseln, was zuvor mit technischem Sachverstand erklärbar gemacht wurde.

Unbestritten zählt Frei Otto zu den Vorreitern auf den Gebieten der Ökologie und Nachhaltigkeit. Wenn Otto aber von „natürlichem Bauen“ spricht, so denkt er eher an konstruktive Selbstbildungsprozesse (ein zwischen zwei Punkten aufgehängtes Seil findet seine Form tatsächlich ganz allein) als an hochgradig technisierte Null-Energiehäuser. Seine Bauten sind auf ganz natürliche Weise ökologisch. Das zeigt die gemeinsam mit Rolf Gutbrod im saudischen Jeddah realisierte Zeltkonstruktion einer Sporthalle, die - analog zur natürlichen Luftzirkulation in traditionellen Nomadenzelten - ohne Klimatisierung auskommt und deren transluzente Kunststoffhülle für blendfreies Tageslicht im Inneren der Halle sorgt.

Das zeigt aber auch sein jüngstes spektakuläres Projekt, die zusammen mit Christoph Ingenhoven 1997 entworfene Überdachung des neuen unterirdischen Durchgangsbahnhofs in Stuttgart. Im Zusammenhang mit der städtebaulichen Vision „Stuttgart 21“ könnte hier ab 2009 ein zwölf Meter tief versenktes Bahnhofsgebäude entstehen - ganz ohne Klima- und Belüftungstechnik und tagsüber auch ohne zusätzliche Beleuchtung. Möglich wird dies durch eine als öffentlicher Platz niveaugleich mit dem benachbarten Schlosspark konzipierte Dachfläche, in die 28 tropfenförmige „Lichtaugen“ eingelassenen wurden. Erwartungsgemäß erweisen sich diese bei näherer Betrachtung nicht als verspielter Zierrat, sondern integraler Bestandteil der darunter liegenden Druckstützen in Kelchform (erneut entstanden als Umkehrform eines Hängemodells). Aufgrund der bislang ungeklärten Finanzierung von „Stuttgart 21“ ist auch die Realisierung des Bahnhofsgebäudes ungewiss, eine Entscheidung wird erst für Anfang nächsten Jahres erwartet.

„Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen, um allen Menschen ein friedliches Leben in der von ihnen selbst behüteten Natur zu ermöglichen.“ Solche und ähnliche Äußerungen Frei Ottos lassen viele Architekten an die Sturm- und Drangzeit ihrer Studientage oder an pseudophilosophische Lippenbekenntnisse von international operierenden Architekturfabriken denken. Otto geht es dabei aber weder um eine naive Sozialutopie, noch um Marktvorteile, sondern um den insbesondere an Architekten, Technikern und Wissenschaftlern gerichteten Appell zu mehr gesellschaftlichem Engagement.

Aufgrund seines eigenen Engagements (sowie der daraus resultierenden Bauwerke) hat er neben dem Praemium Imperiale bereits unzählige andere Architekturauszeichnungen erhalten. Weltberühmt wurde Frei Otto hingegen nicht wegen, sondern trotz dieser oft unbequemen Haltung - noch heute nimmt er kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, zu Grundsatzfragen des Bauens Stellung zu beziehen.

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