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Das Leben in der Kulisse
Der Standard

Viele Menschen sehnen sich nach einem Leben in einer vorgegaukelten Realität. Doch der amerikanische Traum vom Wohnen in künstlicher Umgebung ist globaler, als man vermuten möchte.

4. November 2006 - Wojciech Czaja
Las Vegas ist verrucht, kitschig und zutiefst unauthentisch. Als wohl erzogener Intellektueller gehört es zum guten Ton, das neue Babylon mitten in der Wüste verächtlich abzuqualifizieren. Ohne Geld ist man aufgeschmissen, ohne Auto sowieso, und was die kulturelle Positionierung der mittlerweile 1,7 Millionen Einwohner zählenden Entertainment-Metropole betrifft, kann man sich nur peinlich abwenden und sich in Grund und Boden schämen.

Gerade zu einer Zeit, als sich die Energiekrise zusammenbraute, haben die beiden Architekten Robert Venturi und Denise Scott Brown eine Huldigung an ebendiese postmoderne Stadt in die Tasten gehauen. Ihr Buch Learning from Las Vegas aus dem Jahre 1972 stellte sich als jahrzehntelang gültiges Regelwerk heraus. Doch kann man von Las Vegas, von dieser billigen Nachahmung der Realität denn wirklich lernen? „Eine Stadt, die einzig und allein von einer ganz bestimmten Hochkultur dominiert wird, verliert ihre Lebensqualität“, erklären Venturi und Scott Brown in einem Interview, „sehr gut und sehr schlecht vereint - das ist besser als mittelmäßig, mittelmäßig, mittelmäßig.“

Die Welt hat von Las Vegas gelernt - mehr als ihr lieb ist. Nicht wenige Menschen sehnen sich in der Zwischenzeit danach, der großen, unübersichtlichen und kriminellen Welt da draußen den Rücken zu kehren. Sie wünschen sich ein Leben hinter Potemkin'schen Fassaden, ein Leben in Friede, Freude, Eierkuchen. Der Disney-Konzern erkannte diese gesellschaftliche Tendenz recht früh und stampfte in den Neunzigerjahren die Retortenstadt Celebration aus dem Boden des Bundesstaates Florida. Obwohl das etwa 10.000-Einwohner-Städtchen unmittelbar an die Walt Disney World angrenzt, wird das Markenlogo nicht aufdringlich in den Vordergrund gerückt. Vielmehr ist Celebration - und das verwundert auf den ersten Blick - ein Hort der Markenlosigkeit.

„Natürlich handelt es sich dabei um eine Illusion“, schreibt Naomi Klein in ihrem Bestseller-Wälzer No Logo!, „die Familien, die Celebration zu ihrem Wohnort erkoren haben, sind die Ersten, die ein Leben im Zeichen der Marke führen.“ Freiheit und Unabhängigkeit sind leere Begriffe, mit denen sich die Stadtverwaltung nur oberflächlich schmückt, denn in der Praxis machte sich Michael Eisner, damaliger Geschäftsführer der Walt Disney Company, seine Einwohner untertan. Eisner schreckte nicht einmal davor zurück, das städtische Ausbildungs- und Schulsystem der großen Obhut von Mickey Mouse und Donald Duck zu unterstellen.

„Celebration ist wahrscheinlich das infamste Stadtplanungsexperiment des auslaufenden 20. Jahrhunderts“, erklärt die in Wien und New York lebende Soziologin Annette Baldauf, die Stadt sei ein Hybrid zwischen der so genannten Experimental Prototype City of Tomorrow (EPCOT) und Walt Disneys früher Vision einer „all American Reality Show“ - eines Lebens in Dekor und Kulisse. Die nostalgische Masterplanung, die auf den Grundsätzen des 19. Jahrhunderts aufbaut, stammt von den beiden Büros Cooper, Robertson & Partners und Robert Stern Architects. Die öffentlichen Gebäude entwarfen Architekturgrößen wie Philip Johnson, Michael Graves, Cesar Pelli, Aldo Rossi und - keine wirklich große Überraschung - Robert Venturi. „Wenn man abends die Straßen entlangspaziert oder Rad fahren geht, fühlt man sich beinahe wie in einer Filmkulisse“, erzählt Miss Hancock. Sie muss es ja wissen, sie ist Einwohnerin seit zehn Jahren.

Wer sich nun im beruhigenden Glauben wiegt, die voranschreitende Verunwirklichung der Welt sei ein zutiefst amerikanisches Phänomen, der irrt. Denn das großmaßstäbliche Bauen von Kulissen - oftmals in der Weite ganzer Städte - gibt es auch in anderen Teilen der Welt. Auch Österreich hat mit seinem ganz eigenen Parndorf-Syndrom zu kämpfen. Wohingegen das burgenländische Designer-Outlet jedoch rein dem Konsum dient, wird man im nordpolnischen Elbing, einer unaufregenden Stadt in der Nähe von Danzig, Zeuge einer rigorosen Rekonstruktionsorgie. Hier werden nicht etwa einzelne Geschäftsgebäude aus dem Erdboden gestampft, hier entsteht gleich eine ganze Altstadt.

Nach einem Masterplan der Architekten Ryszard Semka und Szczepan Baum wird das kriegszerstörte Stadtzentrum - bis vor Kurzem toter Punkt in Elbings Mitte - nach historischem Vorbild wieder neu aufgebaut. Mit der originalgetreuen Rekonstruktion nimmt es die Stadtverwaltung jedoch nicht so ernst, schließlich gilt das Hauptaugenmerk dem Ziel, alle Grundstücke so schnell wie möglich an den Mann und Investor zu bringen. Allzu große Einschränkungen würden die potenziellen Käufer womöglich nur vergrämen.

Und so ist das im Werden befindliche Elbing ein Konglomerat postmoderner Fassaden mit Fensterfaschen und Gaupen, mit bemühten Giebeln und Fachwerk-Spielereien. Stolz prangt auf den Bautafeln das architektonische Patentrezept: „Hier entsteht ein historisches Gebäude.“ Selbst mit der letzten Baulückenschließung wird die Stadt nie vollendet sein, denn das Zentrum ist ein Openairmuseum und lässt erst gar keine menschliche Belebung zu. Alles bleibt proper, Werbung ist tabu, und parkende Autos werden nach 18 Uhr erbarmungslos abgeschleppt. „Die ersten Ergebnisse dieses für noch viele Jahre zur Realisierung vorgesehenen Planes kann man schon heute bewundern“, schreibt die polnische Autorin Wieslawa Rynkiewicz-Domino, „die pasticheartigen und pseudomodernen Formen haben ihre Enthusiasten und Gegner.“

Was in Europa noch in relativ kleinem Maßstab vonstatten geht, wird im fernen Osten bereits in extra large aus der Taufe gehoben. Der deutsche Superstar Meinhard von Gerkan konzipierte eine Satellitenstadt am Rande der explodierenden Boom-Metropole Schanghai. Ursprünglich hieß die Retortenstadt Luchao und sollte 300.000 Einwohnern ein Dach über dem Kopf geben. Plötzlich heißt sie Lingang und wurde auf 800.000 Menschen ausgeweitet. Alles kein Problem in dem auf Superlative getrimmten China. Das Außergewöhnlichste an Lingang ist aber sein Stadtzentrum: „Lingang hat eine Mitte, die nicht bebaubar ist - in der Mitte befindet sich ein See“, umreißt von Gerkan mit großen Gesten sein Konzept, „statt eines dichten Zentrums gibt es einen neun Kilometer langen Küstenstreifen, der einer sehr großen Zahl an Bauten eine erste Adresse in der Stadt verschaffen wird. Was gibt es Wunderbareres?“

Ist Lingang eine utopische Stadt? „Nein, denn spätestens in dem Moment, da sie gebaut wird, ist sie nicht mehr utopisch.“ Heute ist Lingang eine infrastrukturelle Hülle aus Straßen, fertig gepflasterten Gehsteigen und adrett zurechtgestutzten Bäumchen. Das einzige Gebäude, das hier steht, ist das Rathaus mit angrenzendem Besucherzentrum. Unrealer kann das Herz einer Stadt nicht aussehen.

Was fehlt, sind Häuser und Menschen. Wo eines Tages 800.000 Personen in ihren bunten Häuschen leben werden, biegen sich heute noch die Grashalme im Wind. Chinesische Touristen und österreichische Journalisten sind die einzigen Gestalten, die durch die unbelebte Landschaft schleichen. Sie richten das Objektiv ins Nichts und halten die gähnende Leere fest. Kurz bleibt ein weit gereistes Schanghai-Taxi am Straßenrand stehen. Schon eilt ein Polizist herbei und bläst in seine Trillerpfeife. Auch hier im Niemandsland ist Parken verboten.

Celebration, Elbing, Lingang, aber auch die unzähligen Sun Cities in Südafrika und in den USA sind der reale Beweis dafür, dass die „Truman Show“ - vor einigen Jahren noch auf die Hollywood-Kinoleinwand verbannt - längst Wirklichkeit geworden ist. Das heile und idyllische Seahaven, in der Truman Burbank, perfekt dargestellt von Jim Carrey, tagtäglich in die Arbeit radelt, mag von den einen belächelt und befürchtet werden, von den anderen aber wird diese Wunschvorstellung sehnsüchtig angestrebt. Sie wollen ein Leben in Freiheit und Unabhängigkeit - und entscheiden sich für die totale Kontrolle durch Kommerz und Politik.

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