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«Studieren mit mehr Eigenverantwortung»
TEC21

Mit der Bologna-Reform verändern sich Lehre, Forschung und Praxis im Bauingenieurwesen. Die ersten Master-Absolventen der neuen Studiengänge kommen in einigen Jahren auf den Arbeitsmarkt. tec21 befragte Lehrende und Praktiker, wie sich die Ausbildung der Studierenden verändern wird und was die späteren Arbeitgeber von den Absolventen erwarten und sich erhoffen. Die fünf Interview-Partner wurden in schriftlicher Form nach ihren Vorstellungen befragt, wodurch unabhängige Stellungnahmen aus fünf Bauingenieur-Tätigkeitsfeldern zusammengetragen werden konnten.

Lehre

Welche inhaltlichen Veränderungen lassen sich nach der Bologna-Revision gegenüber der früheren Bauingenieur-Ausbildung feststellen?

Kenel: Die Umstellung auf den Bachelor bot die Möglichkeit, das Curriculum kritisch zu hinterfragen, den neuen Anforderungen anzupassen und die Unterrichtseinheiten zeitlich sowie fachlich besser abzustimmen. Die Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) hat beispielsweise den Bereich Nachhaltigkeit und Umwelt verstärkt und vernetzt sich mehr mit den Abteilungen Raumplanung und Landschaftsarchitektur. Dies wirkt sich sehr positiv in der Bearbeitung von interdisziplinären Projektarbeiten aus.

Fontana: Es lassen sich im Wesentlichen zwei Veränderungen feststellen: Erstens zeigt sich eine stärkere Ausrichtung auf das wissenschaftliche Vorgehen, und zweitens besteht die Möglichkeit, sich im Master-Studium in zwei von sechs Richtungen (Konstruktion, Geotechnik, Verkehrssysteme, Wasserbau und Wasserwirtschaft, Bauplanung und Baubetrieb, Werkstoffe und Mechanik) zu vertiefen. Das bisherige breite Studium war in der vollen Tiefe für Studierende in vier Jahren kaum zu bewältigen. Sie sind nicht mehr bereit oder in der Lage, 70 und mehr Wochenstunden zu leisten – was auch verständlich ist. Auch ist eindeutig ein Trend zu mehr Mobilität mit Auslandsemestern festzustellen, was sich positiv auf die internationale Konkurrenzfähigkeit der Absolventen auswirkt. Die Fähigkeit zu präsentieren ist heute deutlich besser, eventuell aber zu Lasten der Selbstkritik an den eigenen technischen Kenntnissen und der Bescheidenheit.

Haben Sie in Zusammenhang mit der Bologna-Revision negative Erfahrungen gemacht?

Kenel: Der Bachelor-Studiengang wurde an der HSR im Wintersemester 05 / 06 problemlos eingeführt. Die Studierenden müssen vermehrt Eigenverantwortung im Studium übernehmen, so beispielsweise für das Selbststudium. Es ist aber noch zu früh, um über positive oder negative Erfahrungen zu berichten. Die zukünftigen Arbeitgeber unserer Abgänger wissen noch nicht genau, was sie von den jungen Ingenieurinnen und Ingenieuren erwarten können. Dieser Verunsicherung müssen wir im Dialog Rechnung tragen und die Chancen solcher Revisionen vermehrt ins Zentrum der Gespräche rücken.

Fontana: Mit dem bereits heute eingeführten euro-päischen Credit-System entfällt das grosse Schlussdiplom, mit dem das Wissen umfassend geprüft wurde. Das Wissen in den einzelnen Fächern ist zum Zeitpunkt der jeweiligen Prüfungen aus diesem Grund heute grösser. Leider fehlen Studierenden aber damit oft die Querbezüge, und das analytische gewinnt gegenüber dem synthetischen Denken.

Ist die Fachhochschule ein möglicher Weg, das Bildungsniveau der Technischen Hochschulen auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen?

Fontana: Ja ganz klar, sofern das Studium an der FH mit einem Master an der ETH abgeschlossen wird. Der Weg über die sekundäre Bildung wird, durch die zunehmende Bedeutung der sprachlichen Fähigkeiten gegenüber den mathematisch-naturwissenschaftlichen der gymnasialen Bildung, für die Ingenieurausbildung immer wichtiger. Gut ist, dass schon heute zwischen den Studierenden ein reger Austausch zwischen praktischer Erfahrung und theoretischem Wissen stattfindet.

Kenel: Die Fachhochschulen haben ein zur ETH verschiedenes Eintritts- und Austrittsprofil, welches die Studierenden auf die verschiedenen Aufgaben der Wirtschaft vorbereitet. Dabei geht es nicht um vergleichbare Bildungsniveaus. Das in der Schweizer Wirtschaft gut verankerte duale Bildungssystem erlaubt es, auch zukünftig einerseits IngenieurInnen an den FH mit stark praxisorientiertem Hintergrund als auch andererseits naturwissenschaftlich geprägte IngenieurInnen an der ETH auszubilden.
Um zu gewährleisten, dass Studierende einer bestimmten Fachrichtung ohne weitere Vorbehalte und Auflagen in ein entsprechendes Master-Studium an irgendeiner Fachhochschule der Schweiz eintreten können, war es bei der Konzipierung der Studiengänge notwendig, die Gliederung der Themengebiete und die Gewichte in der Ausbildung in den Grundzügen festzulegen. Die Konferenz der Fachhochschulen der Schweiz hat die Konzeption gestufter Studiengänge anhand einer ‹Best Practice und Empfehlungen› bereits im Jahr 2003 vorbereitet.

Deuring: Beide Ausbildungssysteme sind sehr wichtig, sollten sich aber auf die jeweiligen Stärken konzentrieren. Die FH kann auf in der Berufslehre erlangte Berufserfahrungen aufbauen, während die Absolventen des Gymnasiums eine gute Allgemeinbildung und Grundkenntnisse in naturwissenschaftlichen Gebieten mitbringen. Ein Studium ist dann effizient, wenn optimal auf diesen Voraussetzungen aufgebaut wird. Dennoch ist eine Durchlässigkeit der Ausbildungswege erforderlich, der Übertritt muss möglich sein. So absolvierte ich, damals etwas schulmüde, nach der Sekundarschule die Berufslehre. Die Freude am Studieren erlangte ich während der letzten Semester meiner Ausbildung zum Ingenieur HTL, und ich wollte meine Kenntnisse, nach dieser soliden Ausbildung, vor allem in den konstruktiven Fächern sowie der Materialtechnologie vertiefen. So war es für mich sehr willkommen, dass ich dank einem Übertrittskurs den Zugang an das zweite Vor-diplom der ETH erlangen konnte und damit für mich die Fortsetzung des Studiums im 5. Semester der ETH möglich war.

De Dominicis: Der Übertritt von der FH zur ETH soll möglich sein, die Übergangsanforderungen sollten aber hoch angesetzt werden. Schon wegen des heutigen Mangels an Fachkräften brauchen wir verschiedene Eingangspforten mit unterschiedlichen Voraussetzungen. Die Praxis braucht diese ‹Breite›, denn bei der Personalrekrutierung zeichnet sich der Trend ab, dass wir keine passenden Leute auf unserem Markt finden. Unsere Aufforderung an die Hochschulen lautet deswegen: Gestaltet die Lehrgänge so, dass die Studiengänge an Attraktivität gewinnen.

Die Stufe Master auf dem sekundären Bildungsweg zu erreichen, fehlt heute vollständig und wird nun nach der Bologna-Revision angeboten. Bildet der Master of Science FH ein
Konkurrenzprodukt gegenüber dem Master of Science ETH?

De Dominicis: Man sollte aufhören, von ‹konkurrenzierenden› Titeln zu sprechen, sondern vielmehr ‹sich ergänzende› Titel anstreben. In der Praxis ist die Konkurrenzierung bei der Anstellung kein Thema, was zählt, sind die vorhandenen Kompetenzen der Inge-nieurInnen. Und eine gute Qualität der Ausbildung ist die Basis dafür. Angesichts der rückläufigen Studentenzahlen sollte das Ziel die Fokussierung auf die Qualität sein. Die beschränkten Gelder müssen konzentriert und Doppelspurigkeiten vermieden werden. Ein möglicher Ansatz wäre, den Master nur an der ETH und einigen wenigen FH anzubieten. Von Konkurrenz hingegen müssen wir im internationalen Kontext sprechen. Dort brauchen wir ein gutes Produkt wie die Ausbildung und Forschung an der ETH bzw. der EPFL.

Fontana: Dank den guten Übertrittsmöglichkeiten von der FH an die ETH besteht in der Schweiz meines Erachtens keine Notwendigkeit für einen allgemeinen Master der FH im Bauingenieurwesen. Damit entfällt auch die Diskussion über ‹Andersartigkeit und Gleichwertigkeit›. Die ohnehin knappen Ressourcen sollten sinnvoller für berufsbegleitende Master der FH in Spezialbereichen eingesetzt werden.

Kenel: Das Masterprogramm FH bildet mit der praxisbezogenen Ausbildung eine gute Ergänzung zum wissenschaftlichen Master an der ETH. Die Wirtschaft braucht neben den naturwissenschaftlich tiefer gehend ausgebildeten ETH-Masters auch FH-Master, die in der Ausführung und Begleitung komplexer Bauvorhaben ihre Stärken haben.

Deuring: Die Praxis hat einen grossen Bedarf an Ingenieuren beider Ausbildungswege. Eine Angleichung ist für die Master-Stufe nicht sinnvoll, da beide Ausbildungswege erwünscht sind. Würde jedoch trotzdem eine Angleichung durchgeführt, müsste bei der Anstellung verstärkt auf die Spezialisierung der Absolventen geachtet werden.

An den FH wurde stets angestrebt, eine praxisnahe Ausbildung mit Dozierenden aus der Praxis anzubieten. Wird dies auch in Zukunft möglich sein?

Kenel: Der Lehrkörper der FH setzt sich aus hauptamtlichen Professoren und nebenamtlichen Dozenten zusammen. Während sich die Professoren neben der Lehre auch in der angewandten Forschung engagieren, garantieren die Dozenten den engen Kontakt zur Wirtschaft. Der Aufbau eines starken Mittelbaus, also die Anstellung von Assistenten, ermöglicht die Realisation verschiedener Projekte in der angewandten Forschung.

Fontana: Die Forschung an der FH im Bauingenieurbereich ist nicht unproblematisch. Den grössten Erfolg verspricht wohl die praxisnahe Forschung an aussergewöhnlichen Tragwerken, für die neue Bauteile und Materialien eingesetzt werden. Darin sollte die praktische Tätigkeit der FH-Dozierenden und die sorgfältige Evaluation und Analyse der am Bau erzielten Ergebnisse eingebettet sein. Damit liesse sich auch der Spagat zwischen praktischer Tätigkeit und Forschung der FH-Dozenten entschärfen.

Forschung

Wie reagiert die ETH mit ihren Forschungsprojekten auf die neue ‹Konkurrenz›, die durch die Forschungsmöglichkeiten an der FH entstehen?

Fontana: Das Verknüpfen von projektbezogener Forschung, Entwicklung und Dienstleistung hat für die FH einen besonderen Stellenwert und ist ihre starke Ausgangsposition. Die Beziehungen der Firmen zu den Forschern sind dabei häufig personenbezogen und richten sich nach deren besonderem Fachwissen und Reputation. Jedoch sollten an Hochschulen nicht Routinearbeiten ohne Forschungs- oder Ausbildungscharakter durchgeführt werden, womit private Anbieter mit öffentlichen Geldern konkurrenziert würden.
Das Humankapital der Doktorierenden der ETH und der Wissenstransfer beim Stellenwechsel in die Praxis haben für die Unternehmen einen hohen Stellenwert. Die Ausbildung von zukünftigen Spitzenkräften in der wissenschaftlichen Arbeit ist integrierender Bestandteil der Forschung an der ETH. Verbunden mit der Führung von technischen Mitarbeitern, der Organisation und Finanzierung des eigenen Projektes ist dies eine wichtige Erfahrung für die spätere praktische Tätigkeit. Neben der Forschung an der ETH und den FH darf aber auch die Bedeutung der Forschung an der Empa im Bereich der Bauingenieurwissenschaften nicht vergessen werden. ETH und Empa arbeiten hier zum Bespiel mit gemeinsamen Doktorierenden eng zusammen.

Stellen die Förderung der Grundlagenforschung an der ETH und die anwendungsorientierte Forschung an der FH eine Abgrenzung der beiden Forschungsgebiete dar?

Fontana: Mit den Doktorierenden und den Festangestellten wird sich automatisch eine mehr auf grundlagenorientierte und auf langfristige Ziele ausgerichtete Forschung an der ETH einstellen, mit anwendungsorientierten Projekten in Spezialbereichen. Andererseits festigt sich eine mehr entwicklungsorientierte Forschung an den Fachhochschulen mit stärkerem Bezug auf die forschenden Personen und ihr Spezialwissen, das von den Unternehmungen für ihre Entwicklungsprojekte auch in Form von Dienstleistungen gefragt ist.

Deuring: An der Empa und an den beiden ETH habe ich erlebt, wie effizient Forschungsprojekte durchgeführt werden. Sowohl die Unterstützung durch Fachkräfte als auch die Bedingungen in den Labors sind gut. Die betreuenden Professoren sind mit ihrem Wissen für die Leitung der Arbeiten bestens geeignet. An Fachhochschulen hingegen sind die Voraussetzungen sehr unterschiedlich, genauso wie die Qualität der Arbeiten. Wir sollten deshalb gut abwägen, wo welche Arbeiten vorgenommen werden. Konkurrenz belebt, aber zu viel Energie für die Akquisition von Forschungsarbeiten und deren Verteilung auf zu viele Schulen kann nicht sinnvoll sein. Ein Ansatz könnte sein, dass alle Regionen ein starkes Forschungszentrum haben und die übrigen Schulen mit einem entsprechenden Verbund auch von diesen Arbeiten profitieren.
Ebenso gilt es, gut zu überlegen, welche Zielsetzungen mit den Forschungsarbeiten zu verfolgen sind. Die Grundlagenforschung ist wichtig, dabei dürfen aber die Bedürfnisse der Bauindustrie nicht vergessen werden. Eine intensive Zusammenarbeit mit der Praxis sowie den verschiedenen Baustofflieferanten ist unabdingbar.

De Dominicis: Die Forschung sollte – egal ob ETH oder FH – zu einem gewissen Mass immer anwendungsorientiert sein, denn schliesslich sollten die Erkenntnisse für die Praxis mittel- oder langfristig einen Mehrwert ergeben. Die raren Forschungsgelder müssen konzentriert eingesetzt werden. Entsprechend unterstützen wir den Vorschlag, Forschung bei der ETH / EPFL sowie bei ausgewählten, spezialisierten FH zu betreiben.

Praxis

Besteht in der Praxis der Wunsch nach Generalisten oder mehrheitlich spezialisiert ausgebildeten Studenten?

Somaini: Mein Wunsch wäre ein Ingenieur oder eine Ingenieurin mit einem oder zwei Spezialfächern und mit guten Grundkenntnissen in den übrigen Gebieten. Damit wird einerseits die Fähigkeit geschult, sich in einer bestimmten Materie zu vertiefen, gleichzeitig wird aber auch die Gesamtübersicht gefördert.

De Dominicis: Bei der SBB Infrastruktur brauchen wir Generalisten und Fachspezialisten. Generalisten werden für das Projektmanagement in mittleren bis hochkomplexen Projekten mit verschiedensten Fachdisziplinen aus der Bahntechnik eingesetzt. Spezialisierte BauingenieurInnen nehmen wiederum wichtige Aufgaben im Bereich Engineering und Produktmanagement wahr. Wir benötigen also sowohl anwendungs- wie auch entwicklungsorientierte IngenieurInnen.

Deuring: Die Praxis benötigt den Generalisten und den Spezialisten. Der Generalist sollte mit Umsicht die Anliegen des Kunden und der Gesellschaft optimal umsetzen. Diese Generalisten müssen ihre Grenzen kennen und rechtzeitig die Spezialisten einsetzen, die in ausgewählten Themen über ein vertieftes Wissen verfügen. Dies bedeutet aber nicht, dass die Schule, oder sogar jede Schule, alle Ausbildungen anbieten muss. Eine Fachhochschule könnte sich zu einem Kompetenzzentrum für einen ausgewählten Bereich entwickeln, wie dies für den Bereich Holz in Biel mit Erfolg durchgeführt wird. Die Wahl von Vertiefungsrichtungen wiederum für die Hochschulen erachte ich als eine sehr gute Form.

Kenel: Das Abschlussprofil der FH ist generalistisch ausgerichtet. Eine Spezialisierung sollte auf dem Arbeitsmarkt oder im Master-Studium erfolgen.
Fontana: Der Studienplan der ETH ist Sache des Departements, die Meinungen der Praxis bilden darin einen wichtigen Teil des Findungsprozesses für das Curriculum. Es werden sehr wohl Generalisten ausgebildet, wobei nach wie vor die Möglichkeit besteht, Vertiefungsbereiche zu wählen.

Wie beurteilen Sie als Praktiker die Qualität der Absolventen heute?

Deuring: Wir dürfen uns sehr glücklich schätzen, dass die Qualität der in unserem Land ausgebildeten IngenieurInnen hoch ist. Diesen hohen Standard zu halten ist aber eine sehr grosse Herausforderung. Nur die besten Lehrkräfte sollten an die Schulen berufen werden. Sie müssen sowohl ihr Fach als auch die Ausbildungsmethodik beherrschen. Aber gerade die letztere Fähigkeit wird für Anstellungen selten geprüft. Die am besten geschulten Lehrer findet man an den Grundschulen. An den Hochschulen verfügen die Lehrkräfte selten über methodische Ausbildungen. Darüber hinaus ist für diesen Standard die Messlatte für die Studierenden weiterhin hoch zu halten. Weder der Mangel an BauingenieurInnen noch der Druck, genügend Studenten an einer Schule zu haben, dürfen dazu führen, dass die hohen Ansprüche nach unten korrigiert werden. Schulen sollten sich nicht gegenseitig die Studenten abwerben, vielmehr sollten klare inhaltliche Abgrenzungen dazu führen, dass ein Student die für ihn passende Ausbildungsstätte wählt. Die Anzahl der entsprechenden Angebote muss sich an Bedarf und Nachfrage sowie wirtschaftlich optimierten Studentenzahlen pro Studiengang orientieren und darf sich nicht nach födera-listischen Kriterien richten. Nur so wird unser Ausbildungsangebot im Vergleich zum Ausland weiterhin zur ersten Wahl gehören.

Wie wird sich die Qualität der zukünftigen Absolventen durch die Bologna-Revision verändern?

De Dominicis: Ich habe noch keine Erfahrung mit den Absolventen aus den Bachelor- und Master-Studiengängen sammeln können. Für uns ist es wichtig, dass im Hinblick auf die künftigen Herausforderungen insbesondere die Sozialkompetenz der Absolventen gestärkt wird. Das Arbeiten in multidisziplinären Teams mit strengen Qualitäts- und Kostenvorgaben nimmt stark zu. Mit der Einführung der Bologna-Revision wird hoffentlich auch die Vergleichbarkeit der Ausbildungen auf dem internationalen Parkett besser. Wir haben in den letzten Jahren vermehrt Fachkräfte aus dem grenznahen Ausland rekrutiert und gute Erfahrungen mit ihnen gemacht. Die rückläufigen Studentenzahlen an den inländischen Hochschulen werden diesen Trend verschärfen.


Haben Sie Befürchtungen, dass wesentliche Aspekte des Bauingenieurstudiums mit dem neuen Ausbildungssystem nicht mehr berücksichtigt werden können?

Somaini: Ich hoffe, dass damit die Möglichkeit genutzt wird, alte Strukturen aufzufrischen und der Praxis mehr Gewicht zu schenken. Gerade die Einführung eines obligatorischen Praktikums während des Studiums ist zu fördern. Mit einem Praxisbezug ist die Theorie viel einprägsamer, und es gibt ein bewussteres Lernen.

De Dominicis: Die Hochschulen müssen mit den Entwicklungen der Technik Schritt halten und für eine solide Grundausbildung sorgen. Ich habe das breite Spektrum der Fachdisziplinen immer als eine Stärke des Bauingenieurstudiums an der ETH erachtet. BauingenieurInnen sind mit ihren analytischen, vernetzenden und umsetzungsorientierten Fähigkeiten in der Praxis sehr polyvalent einsetzbar. Empfehlenswert ist die Einführung eines obligatorischen Praktikums. Die Stärken älterer Bauingenieur-Lehrgänge lagen darin, dass der Praxiserfahrung ein hoher Stellenwert eingeräumt wurde. Diesem Bezug zur Praxis muss die Hochschule weiterhin Rechnung tragen und entsprechend Zeit dafür im Lehrplan einräumen.

Deuring: Ich hoffe sehr, dass mit der Umsetzung des neuen Ausbildungssystems die sich eröffnenden Chancen genutzt werden. Die Fachhochschulen bilden die Praktiker aus, die bereits nach nur kurzer Einführung die ingenieurtechnische Bearbeitung vieler interessanter Projekte übernehmen können und dank ihrem Werdegang die konstruktive Durchbildung kennen und auch Konstrukteure anleiten können. Die Hochschulen dagegen dürfen in den wichtigen Grundlagenfächern keinen Abbau vornehmen. Gerade das analytische Denken zeichnet den Absolventen dieses Ausbildungsweges aus. Gleichzeitig soll die Ausbildung an den ETH nicht a priori die Vorbereitung auf eine Forschungskarriere sein. Durchaus wäre möglich, einen Teil der Studierenden entsprechend ihrer Neigung und Eignung ab den letzten Semestern auf diesen Weg zu schicken. Die übrigen aber sollen in den traditionellen Bauingenieurthemen eine fundierte Ausbildung erhalten, die sie, nach einer gegenüber dem FH-Abgänger längeren Einarbeitungszeit, zur Bearbeitung sehr komplexer Aufgaben befähigt.


Sollten unternehmerische Kompetenzen (Akquisition, Management, soziale Kompetenzen, Führungsqualitäten, Finanzierung usw.) bereits in der Grundausbildung geschult oder erst mit Weiterbildungsmöglichkeiten angeboten werden?

Somaini: Der Einbezug der erfahrenen BauingenieurIn-nen in die Projektleitung und in die Geschäftsleitung erfordert Zeit, in der das angeeignete Wissen wieder verloren geht. Es ist meiner Meinung nach nicht sinnvoll, bereits im Grundstudium die Ausbildung danach auszurichten, da dies nur auf Kosten von anderen Fächern erfolgen könnte. Viel sinnvoller ist es, dies in der Weiterbildung anzubieten. Schliesslich entwickelt sich der Stoff der entsprechenden Fächer auch weiter und soll bei der Vermittlung und anschliessenden Anwendung aktuell sein.

Deuring: Die Schulen müssen sich auf eine solide Grundausbildung konzentrieren. Es ist nicht sinnvoll, in allen Themen nur an der Oberfläche zu arbeiten. Daher sollten im Studium die hier angesprochenen Themen nur gestreift werden. Es ist vielmehr Aufgabe der Praxis, nach der gründlichen Einarbeitung einzugreifen. Darüber hinaus gibt es ein breites Kursangebot sowie Nachdiplom- und Ergänzungsstudien, deren Kernkompetenzen gerade darin liegen.
Die BauingenieurInnen sind im Hochbau PlanungspartnerInnen des Architekten. Im Rahmen der interdisziplinären Zusammenarbeit entwickeln sie mit ihm von Beginn weg hochwertige Strukturen. Aber eine Unterstützung des Architekten ist nur möglich, wenn die BauingenieurInnen diesen verstehen, die Zusammenarbeit nicht scheuen, sondern diese aktiv suchen und schliesslich zum Gelingen des Bauwerks mit einem hohen Engagement beitragen. Es kann definitiv nicht, wie heute immer wieder beobachtet, das Nacheinander sein, bei dem die IngenieurInnen nur noch ‹gesundrechnen›. Dies bedingt aber, dass die BauingenieurInnen eine Struktur entwerfen können, die physikalisch korrekt ist und dabei alle Randbedingungen berücksichtigt. Leider finden diesbezügliche Ausbildungen, nämlich das Entwerfen von Tragstrukturen, kaum statt.

De Dominicis: Was die Sozialkompetenz betrifft, sollte diese während der ganzen Ausbildung gefördert werden. Dazu gehört in erster Linie das Arbeiten in Teams. Die restlichen Aspekte der Unternehmungsführung sind meines Erachtens Themen der stetigen beruflichen Weiterbildung. Verschiedenste Personalentwicklungsmassnahmen lösen diese Herausforderungen. Das Bild, IngenieurInnen hätten verglichen zu anderen Akademikern wie Betriebswirtschaftern weniger Führungskompetenzen, ist falsch. Gerade BauingenieurInnen bringen sehr gute Voraussetzungen für Führungsaufgaben mit. Eine spezialisierte Weiterbildung ist heute für IngenieurInnen, die an unternehmerischen Aspekten interessiert sind, ein Muss. Persönlich finde ich es sinnvoll, die unternehmerischen Kompetenzen zu einem Zeitpunkt aufzubauen, wenn sie auch angewendet werden können.

Inwieweit werden Sie als Praktiker von den Schulen mit einbezogen, wenn Lehrziele definiert werden?

De Dominicis: Im Rahmen von speziellen Lehrgängen an der FH Winterthur konnten erste Erfahrungen bei der Mitgestaltung von Lehrgängen gesammelt werden. Ausserdem laufen Forschungs- und Diplomarbeiten mit verschiedensten Professuren an den Hochschulen. Wir versuchen, jährlich durch die Vermittlung von Praktika die Zusammenarbeit zu intensivieren. Auch uns steht jedoch nur eine beschränkte Menge von Ressourcen für die Betreuung der Studenten zur Verfügung. Im Hinblick auf den ausgetrockneten Markt im Bau- und Verkehrsbereich müssen aber auch wir den Fokus vermehrt auf junge Leute richten, um diese für das Bauwerk Bahnnetz zu faszinieren.

Somaini: Ich bin überzeugt, dass die Praxis ein Interesse an der Ausbildung ihrer zukünftigen Mitarbeiter haben muss.

Deuring: Ich glaube nicht, dass die Praxis oft für diese Fragen hinzugezogen wird. Das Interesse, an den Zielen mitarbeiten zu dürfen, ist aber sehr gross. Wir dürfen die jungen BauingenieurInnen einsetzen, also kann es uns nicht egal sein, mit welchem Rüstzeug sie bei uns ihre berufliche Karriere starten. Es ist ein grosses Privileg, als BauingenieurIn arbeiten
zu dürfen. Wir müssen aber intensiv daran arbeiten, in der Gesellschaft unseren Ruf wieder zu verbessern, indem wir unsere Leistungen nach aussen tragen und uns nicht verstecken. Dazu gehört auch, dass wir unseren IngenieurInnen entsprechend ihrer Ausbildung und Verantwortung angemessene Löhne bezahlen können. Die Umsetzung der erforderlichen Massnahmen wird hoffentlich dazu führen, dass wieder vermehrt junge Menschen diesen Ausbildungsweg wählen. Dann müssen die Schulen Garant dafür sein, dass wir in der Praxis auf gut ausgebildete Persönlichkeiten zählen dürfen.
Interviewpartner:

Martin Deuring
Dr. sc. techn., dipl. Bauing. ETH / SIA / USIC
Dr. Deuring + Oehninger AG
martin.deuring@deuring.ch

Serena De Dominicis
dipl. Bauing. ETH, NDS Wirtschaftsing. FH
Techn. Führungsunterstützung der Leitung PBM
Projekte Bau Management, SBB Infrastruktur
serena.de.dominicis@sbb.ch

Mario Fontana
Prof. Dr. sc. techn.,  dipl. Bauing. ETH / SIA
Institut für Baustatik und Konstruktion, ETH Zürich
fontana@ibk.baug.ethz.ch

Albin Kenel
Prof. Dr. sc. techn. ,  dipl. Bauing. ETH / SIA
Institut für Baustatik und Konstruktion, HS Rapperswil
akenel@hsr.ch

Dario Somaini
Dr. sc. techn., dipl. Bauing. ETH/SIA
Fratelli Somaini SA, Grono
dario.somaini@bluewin.ch

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Für den Beitrag verantwortlich: TEC21

Ansprechpartner:in für diese Seite: Judit Soltsolt[at]tec21.ch

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