Artikel

Städtebaulicher Aufbruch
Neue Zürcher Zeitung

Urbanistische Szenerien Mexikos in der Architekturakademie Mendrisio

15. November 2006 - Roman Hollenstein
Der architektonische Diskurs verschiebt sich derzeit von den verführerischen Einzelbauten etwas in Richtung Stadt, denn die Metropolen vorab in den Schwellen- und Entwicklungsländern wuchern ungehindert weiter. Daher erstaunt es kaum, dass sich die diesjährige Architekturbiennale von Venedig die Probleme der Megastädte auf die Fahnen geschrieben hat und in Palermo derzeit gleich in vier Ausstellungen die Neugestaltung obsolet gewordener Hafenanlagen analysiert wird. Diesen Ereignissen antwortet die Galerie der Architekturakademie Mendrisio mit einem ambitiösen, vom Stadtplaner und Akademiedirektor Josep Acebillo initiierten Ausstellungszyklus, der unter dem Motto «Nuove scene urbane nel mondo» in den nächsten Monaten die urbanistischen, demographischen, soziologischen, ökologischen und kulturellen Entwicklungen sowie die neusten architektonischen Trends in Moskau, den Planstädten Chandigarh und Brasilia, in Johannesburg und in den Megalopolen Chinas beleuchtet.

Den Auftakt zum Ausstellungsreigen macht derzeit Mexiko-Stadt. Die von Miguel Adriá, einem in Mexiko lebenden Katalanen, konzipierte Schau lockt die Besucher zunächst in drei Kojen, in welchen Kurzfilme über Juan O'Gormans Atelierhäuser für Frida Kahlo und Diego Rivera, über den in den fünfziger Jahren zum modernen Wahrzeichen des Landes gewordenen Campus der Universität von Mexiko und über das Werk des Künstlerarchitekten Luis Barragán gezeigt werden. Eine Videowand katapultiert einen daraufhin mit magischem Geflimmer durch die Baugeschichte Mexikos, einer Stadt, die um 1900 erst 345 000 Einwohner zählte, inzwischen aber mit über 20 Millionen Menschen als zweitgrösste Agglomeration der Erde gilt.

Geschickt ist damit die Neugierde geweckt. Informationshungrig studiert man nun die beiden Bildwände auf der Eingangsebene der Galerie. Hier erfährt man einiges über den privaten und öffentlichen Verkehr, über Grünräume und die Austrocknung der ehemals grossen Wasserflächen, über das unvorstellbare Wachstum der Stadt und die Versuche, dagegen mit einer gezielten Verdichtung vorzugehen. Zuversichtlich stimmen Visionen zur Verbesserung der prekären Situation: von der Erziehung über die Gesundheitsversorgung, die Sicherheit, Forschung und Entwicklung, Kultur und Erholung bis hin zur Verwaltung. Da all die Grafiken und Texte, die im kleinen Ausstellungskatalog weiter vertieft werden, nicht allzu sinnlich daherkommen, wird die weitgehend von immateriellen Medien lebende Schau durch eine Serie farbiger Stelen animiert, die an Barragáns Turmskulptur der Ciudad Satélite (1957) in Mexiko erinnern.

Diese Stelen projizieren Bilder der neusten Bauten von zehn wichtigen Architekten an die Wand - darunter der Altmeister Teodoro González de León, die international bekannten Ricardo Legorreta und Enrique Norten und der Jungstar Fernando Romero. Hochhäuser, Schulen, eine einfache und sinnfällig interpretierte Markthalle von Mauricio Rocha, eine von Javier Sánchez zu Wohnzwecken umgestaltete Fabrik, aber auch Luxusvillen oder eine mit ihren Treppen und Regalen aus Metall an Piranesis Carceri erinnernde Bibliothek von Alberto Kalach vergegenwärtigen die konzeptuelle, ästhetische, stilistische und intellektuelle Vielfalt der heutigen mexikanischen Architektur, mit der sich in Lateinamerika derzeit wohl nur Chile messen kann. Wenn die Schau hier in den Kult der Einzelbauten abgleitet, so vielleicht, um klarzumachen, dass städtebauliche Untersuchungen das Formalästhetische nicht völlig ausklammern sollten. Auch wenn die architektonischen Spitzenwerke im unendlichen Strassenraster Mexikos nur winzige Akzente setzen und vom metropolitanen Moloch verschluckt zu werden drohen, haben sie als urbanistische Katalysatoren doch ihre Bedeutung. - Man darf nun gespannt sein, ob sich die Präsentation Mexikos mit den vier weiteren Ausstellungen in Mendrisio zu einer Gesamtsicht verdichten werden.

[ Bis 3. Dezember in der Galerie der Architekturakademie Mendrisio. Katalog: Contemporary Mexican Architectures. New Urban Venues in the Emergent World. Hrsg. Miguel Adriá. Mendrisio Academy Press, Mendrisio 2006. 114 S., Fr. 25.-. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: