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Das Haus als lyrisch-abstrakte Plastik
Neue Zürcher Zeitung

Ein Meisterwerk des Architekten Cesare Cattaneo in Cernobbio am Comersee

2. Dezember 2006 - Roman Hollenstein
Obwohl schon 67 Jahre alt, sieht die frisch renovierte Casa Cattaneo in Cernobbio fast wie ein baukünstlerisches Experiment von heute aus. Ihr Architekt, der 1939 bei ihrer Fertigstellung erst 27-jährige Cesare Cattaneo (1912-1943), konzipierte sie als archiskulpturalen Block, den er nach neoplastizistischen Erkenntnissen dekonstruierte, um dann die so entstandenen Volumen leicht gegeneinander zu verschieben. In schöpferischer Auseinandersetzung mit baukünstlerischen Meilensteinen seiner Zeit - Giuseppe Terragnis Stadtpaläste in Mailand, Le Corbusiers Wohnbauten am Stuttgarter Weissenhof oder Gerrit Rietvelds Schröder-Haus in Utrecht - schuf er ein Meisterwerk des 20. Jahrhunderts, das ausserhalb Italiens noch immer kaum Beachtung findet.

Juwel des Rationalismus

Zum Abschluss des Studiums hatte Cattaneo, der zum Kreis der Comasker Rationalisten um Terragni zählte, von seinen Eltern 1935 ein Grundstück im Zentrum von Cernobbio geschenkt erhalten. Doch der Bau eines Kindergartens in Asnago und die Realisierung der Brunnenanlage, die er zusammen mit seinem Malerfreund Mario Radice für die VI. Triennale von 1936 in Mailand entworfen hatte, hielten ihn zunächst von den Projektarbeiten ab. Im Frühjahr 1938 entstanden dann die ersten Skizzen und Entwürfe für sein kleinstädtisches Wohn- und Geschäftshaus, mit dem er ein Zeichen setzen wollte bezüglich formaler Klarheit und plastischer Logik.

Cattaneos konsequente Recherche verdichtete sich schliesslich zum Manifest eines neuen, von faschistischer Rhetorik freien Rationalismus, dessen lyrische Schwingungen bereits in Richtung des Neorealismus der Nachkriegszeit zu weisen scheinen. Im Sinne einer doppelten Codierung verschmilzt in der Casa Cattaneo der repräsentative Palazzo mit dem lombardischen Laubenganghaus zu einem Prototyp des urbanen Wohnens. Allein: Als das Gebäude im Herbst 1939 vollendet war, hatte sich das architektonische Interesse in Italien vom Wohnungsbau weg- und einem vom Duce geforderten Monumentalismus zugewandt. Nach dem Krieg, als die Wohnfrage neue Aktualität erlangte, wurde der gebaute Architekturtraktat von Cernobbio trotz Alberto Sartoris' Schriften weitgehend ignoriert.

Vorbildliche Baumonographie

Die architektonisch, künstlerisch und geistesgeschichtlich gleichermassen spannende Genese dieses «Capolavoro» wird nun in einer vorbildlichen Baumonographie nachgezeichnet. Darin skizziert die in Mendrisio, Como und Mailand lehrende Architektin Nicoletta Ossanna Cavadini zunächst die praktische Tätigkeit und den intellektuellen Kosmos des dem Theosophen Franco Ciliberti nahestehenden und vom Neuplatonismus geprägten Architekten, der über Zeitschriften und Bücher früh schon mit den verschiedenen Strömungen der internationalen Moderne in Berührung gekommen war. Eine Vielzahl bis anhin kaum bekannter Skizzen, Pläne und Modelle veranschaulicht das Thema des Gleitens, Schwebens und Verschiebens, welches die vielschichtig aufgebrochene, zwischen voll und leer, hell und dunkel wechselnde Strassenfassade mit ihren streifenförmigen Brüstungen und dem für den Comasker Rationalismus so typischen Rahmenelement des Attikageschosses bestimmt. Diese Kompositionsweise bringt die Autorin - ähnlich wie andere Forscher vor ihr - mit Mario Radices geometrisch-abstrakter Kunst in Verbindung.

Ausgehend von den für Cattaneo zentralen Gesichtspunkten der Unità und der vitruvianischen Eurhythmie, analysiert sie daraufhin den geistigen Überbau des Hauses, in dem der Architekt durch den Zusammenklang von Geometrie und Theologie, Technik und Geschichte «jene Ideale von Harmonie und Synthese erreicht, welche er im Aufsatz ‹Giovanni e Giuseppe› mit ‹Polydimensionalität› umschreibt». Die Interpretation dieser wichtigen Theorieschrift, eine suggestive Baugeschichte, eine technische Analyse und Dokumentation sowie ein Verzeichnis von Cattaneos Bauten und Projekten runden zusammen mit Lorenzo Mussis Aufnahmen des renovierten Gebäudes die Monographie ab.

Besondere Aufmerksamkeit widmet Nicoletta Ossanna Cavadini der Wirkungsgeschichte der für Architekten wie Le Corbusier, Peter Eisenman oder Mario Campi wichtigen Casa Cattaneo. Schade nur, dass sie dabei nicht auf die Verwandtschaft dieses Hauses mit Giuseppe Terragnis 1940 vollendeter Casa Giuliani-Frigerio in Como zu sprechen kommt, die Cattaneos plastische Formfindung in der Allansichtigkeit zur Vollendung bringt. Zu hoffen ist, dass dieser wenig erforschte Aspekt in einem weiteren Band der vom Archivio Cattaneo initiierten Schriftenreihe untersucht werden wird.

[ Nicoletta Ossanna Cavadini: Casa Cattaneo a Cernobbio. Silvana Editoriale, Mailand 2006. 99 S., Euro 21.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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