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Erfindung von Geschichte
Neue Zürcher Zeitung

Der architektonische Umbau der usbekischen Hauptstadt

22. Oktober 2001 - Philipp Meuser
Seit den Angriffen auf Afghanistan ist Taschkent ins Rampenlicht gerückt. Die usbekische Kapitale ist mit ihren 2,5 Millionen Einwohnern die grösste Stadt im mehrheitlich islamischen Zentralasien. Auch wenn der Fundamentalismus von der Politik bekämpft wird, ist das kulturelle Leben stark von Traditionen und von der Rückbesinnung auf die vorsowjetische Zeit geprägt. Sichtbar wird dies vor allem in der neuen Architektur.

Taschkent muss für mittelalterliche Reisende ein faszinierender Rastplatz zwischen Europa und China gewesen sein: Inmitten der Hungersteppe an der Seidenstrasse gelegen, zählte die Oasenstadt mit dem Reichtum ihrer Basare, Moscheen und Paläste neben Buchara und Samarkand zu den schönsten Orten in den Ausläufern des Tien-Schan-Gebirges. Heute findet man in der usbekischen Hauptstadt kaum noch altorientalische Baukunst, dafür die umso reicher dekorierten Fassaden sogenannter Plattenbauten. Es scheint, als habe sich die Profession der Architekten in der mittelasiatischen Metropole mit der Formenvielfalt selber etwas beweisen wollen. Und man möchte fast meinen, jeder Wohnblock in der Stadt warte wie in einer Musterschau darauf, von einem potenziellen Auftraggeber in hoher Auflage bestellt zu werden.


Versuchslabor des Plattenbaus

Tatsächlich galt Taschkent zu Sowjetzeiten als Versuchslabor des industriellen Bauens. Die zahlreichen Wohnriegel, die ab Ende der sechziger Jahre errichtet wurden, gehören mit zu den architektonischen Highlights in der mittelasiatischen Steppe - zumindest was ihr Anspruch an die Detaillierung der Fassaden angeht. Gegen die jahrhundertealte Baukunst des Islams konnten die industriell vorgefertigten Profanbauten freilich nie antreten. Trotzdem war die sowjetische Architektur von einem Geist beseelt, der jenseits von monotonen Schlafstädten und Lochfassaden das Thema Massenwohnungsbau auf ästhetisch anspruchsvolle Weise zu beantworten suchte. Dass die viertgrösste Stadt der ehemaligen Sowjetunion zu diesen architektonischen Würden kommen konnte, hat einen tragischen Hintergrund. 1966 wurde fast die ganze Stadt durch ein Erdbeben zerstört. Binnen weniger Sekunden fielen verwinkelte Altstadtquartiere und wohlgestaltete Stadtanlagen in Schutt und Asche. Was für die Bewohner, aber auch für Kunsthistoriker eine Katastrophe darstellte, war für die von Utopien und Ideologien geprägten Planer der Sowjetunion eine Herausforderung. Bereits ein Jahr nach dem Beben konnten die ersten Bewohner in neue Wohnungen ziehen. Möglich gemacht hatte dies ein Arbeitsstab aller Sowjetrepubliken, die ihre besten Planer - so will es zumindest die Legende - in die südliche Teilrepublik entsandt hatten.

Der politische und wirtschaftliche Druck, in kürzester Zeit eine Stadt für mehr als eine Million Menschen wieder aufzubauen, beflügelte die Architekten und Planer zu Höchstleistungen. Trotz kurzer Planungszeit entstanden in Taschkent Siedlungen mit Plattenbauten, in denen sich bautechnische Anforderungen mit lokalen Traditionen verbanden. So etwa finden sich auf den Fassaden vieler Wohnbauten geometrische Formenmuster, die ihre Wurzeln in der islamischen Baugeschichte haben.


Rückbesinnung auf die Tradition

Dass auf diese Weise in Zentralasien wohl die phantasievollsten Beispiele des modernen Plattenbaus entstanden, ist für die heutigen Stadtpolitiker kaum interessant, und für offizielle Vortrags- und Lehrveranstaltungen scheinen die Jahrzehnte vor 1991 tabu zu sein. Laut Aussagen von Studenten werden zurzeit sogar die Bände der sowjetischen Architektur aus den Bibliotheken geräumt. Von einer Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte kann daher keine Rede sein.

Die neue Architektur in Taschkent ist derweil von einer retrospektiven Haltung gekennzeichnet. Im Drang, eine nationale usbekische Identität als Kontrapunkt zum sowjetischen Funktionalismus zu formulieren, greifen die Entwürfe auf stilgeschichtliche Elemente aus dem Mittelalter zurück. So erinnern das Timuriden-Museum, die Börse oder auch das Rathaus, die alle zwischen 1997 und 1999 fertiggestellt wurden, auf Grund ihrer ornamentalen Mosaiken und filigranen Holzarbeiten an eine Zeit, in der die Seidenstrasse die einzige Verbindung zwischen Europa und China darstellte und Zentralasien den gewinnbringenden Handel ermöglichte. Ganz offensichtlich dominiert in den Entwürfen der Repräsentationsbauten der Wunsch nach einer «usbekischen Leitkultur» innerhalb eines Vielvölkerstaates, in welchem jeder vierte Einwohner einer ethnischen Minderheit angehört. Von geschichtlichem Rückblick und architektonischer Ideologie ist auch der Neubau des usbekischen Parlaments geprägt. Bereits im Jahr der Unabhängigkeit 1991 schrieb Präsident Islam Karimow, im Obersten Sowjet der einstigen Weltmacht für interkulturellen Austausch zuständig, den Wettbewerb für einen neuen Stadtpark aus. Der Sieger erhielt kurze Zeit später den Direktauftrag für das Parlamentsgebäude: eine Mixtur aus antikem Säulengang, orientalischer Kuppelarchitektur und modischer Spiegelglas-Fassade - in der Ideologie des postsowjetischen Usbekistan eine Verkörperung von Demokratie, Tradition und Weltoffenheit. Ganz so, wie es der Präsident bestellt hatte.

Architekt des 1997 fertiggestellten Oliy Majli ist Valerie Akopdschanjan. Der heutige Direktor des wissenschaftlichen Forschungsinstituts für Architektur hatte sich in den frühen neunziger Jahren als Architekt erfolgreich selbständig gemacht, entschied sich aber auf Grund einer unternehmensfeindlichen Steuerpolitik für eine Rückkehr in das staatliche Institut, in dem er wieder seinen Chefposten einnahm. Freischaffende Architekten bilden wie in den anderen GUS-Staaten Zentralasiens ohnehin die Ausnahme. Dies hat in Usbekistan verschiedene Gründe. Zum einen fehlen Architekten potenzielle private Auftraggeber, zum anderen sind viele Architekten nach der Unabhängigkeit zu Teilhabern der einst staatlichen Planungsinstitute geworden - auch wenn sich im Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer kaum etwas geändert hat. Die Büros dienen wie schon zu Sowjetzeiten als verlängerter Arm der Verwaltung und übernehmen öffentliche Planungen und Bauaufgaben.


Dirigierte Bauwirtschaft

Usbekistan gehört zu den fünf zentralasiatischen Staaten, die vor zehn Jahren aus dem Zerfall der Sowjetunion hervorgegangen sind. Das Land gilt wegen seiner reichen Öl-, Gas-, Gold- und Uranvorkommen als Tigerstaat in einer strategisch wichtigen Lage zwischen Russland, China und Indien. Das zeigt nicht zuletzt die gegenwärtige Stationierung amerikanischer Kampfjets in der Nähe zur afghanischen Grenze. Doch die stark auf Autarkie ausgelegte Wirtschafts- und Finanzpolitik hat einen Durchbruch auf internationalem Parkett bisher verhindert. Die wenigen grossen Neubauprojekte in Taschkent sind fast ausschliesslich von der Regierung finanziert; die Entwürfe dazu stammen von Projektinstituten, deren Mitarbeiterzahlen von bis zu 500 Personen noch immer auf planwirtschaftliche Verhältnisse schliessen lassen. Die hohe Staatsquote in der Bauwirtschaft gilt auch für die Landwirtschaft, in der knapp die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeiten und die wie zu Sowjetzeiten stark vom Baumwollanbau geprägt ist. Seit den siebziger Jahren wurden Wüsten durch die Umleitung der Zuflüsse des Aralsees in fruchtbares Land verwandelt. Gleichzeitig ist der Pegel des einst viertgrössten Binnensees der Erde um 16 Meter gesunken und dessen Fläche auf ein Drittel geschrumpft, so dass aus den fischreichen Gewässern Salzwüsten geworden sind.

Auch in der Hauptstadt ist das Bewusstsein für einen intakten Wasserhaushalt wenig ausgeprägt: Taschkent, das von Steppen und Wüsten umgeben ist, zählt über tausend Brunnenanlagen auf Stadtgebiet. Während die öffentlichen Grünanlagen von einem Kanalsystem durchzogen werden, sind weite Teile der Altstadt bis heute nicht an die Kanalisation angeschlossen. Der Stadt ist dieser Zustand Anlass, die historischen Quartiere abzureissen und durch anonyme Wohnblöcke zu ersetzen. Gerechtfertigt wird die Eliminierung intakter Nachbarschaften mit dem Vorwand, die schmalen Wege verunmöglichten im Brandfall die Durchfahrt der Löschfahrzeuge. Hinzu kommen immer wieder auch Befürchtungen, in den verwinkelten Quartieren könnten terroristische Keimzellen wuchern. Vor diesem Hintergrund fühlen sich die Befürworter der geordneten und daher kontrollierbaren Grosssiedlungen gegenwärtig mehr als bestätigt. Unter dem Vorwand, eine sichere Stadt zu planen, dürften in den kommenden Jahren daher auch die letzten Teile der noch erhaltenen Taschkenter Altstadt verschwinden. Bisher waren die Rettungsaktionen erfolglos.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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