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Zwiesprache mit dem Ort
Neue Zürcher Zeitung

Genua feiert den Architekten Ignazio Gardella (1905-1999)

Der aus einer Genueser Architektendynastie stammende Mailänder Baukünstler Ignazio Gardella schuf seine rationalistischen, neorealistischen und postmodernen Bauten in kreativer Auseinandersetzung mit dem Kontext. Dies verdeutlicht derzeit eine umfassende Retrospektive in Genua.

19. Dezember 2006 - Roman Hollenstein
Durch die Revitalisierung des Hafenareals hat Genua ein neues Selbstbewusstsein erlangt. Die Neugestaltung begann mit Renzo Pianos Aquarium, wurde mit Hotel- und Kongressbauten sowie dem Meeresmuseum von Guillermo Vasquez Consuegra fortgesetzt und soll Ende des Jahrzehnts mit dem von Ben van Berkel überformten Parodi- Pier gekrönt werden. Noch immer aber darf die 1989 vollendete Architekturfakultät von Ignazio Gardella als das eigentliche baukünstlerische Glanzlicht der letzten zwanzig Jahre bezeichnet werden, auch wenn dieser «neugotische, dem irrationalen Reich der Elfen zuzuordnende» Eingriff in den brüchigen Baubestand leicht zu übersehen ist. Denn der aus den Ruinen des San-Silvestro-Komplexes auf dem höchsten Punkt der Altstadt hervorgewachsene, orangefarbene Baukomplex fügt sich als meisterhaftes Beispiel einer kritischen Rekonstruktion perfekt in die engen Gassen ein. Umso mehr bedauert man, dass er der einzige realisierte Entwurf des seit 1968 von Gardella erarbeiteten Sanierungskonzeptes für das kriegszerstörte Viertel geblieben ist. Stattdessen wurden architektonisch halbherzige Interventionen ausgeführt - bis hin zur jüngst eröffneten Metrostation.

Architektur und Stadt

Der Neubau der Architekturfakultät war nicht Gardellas einzige Tat in Genua, wie derzeit ein Blick in die grosse Gardella-Retrospektive im Palazzo Ducale zeigt. Schon 1954 hatte sich der Architekt mit der (nie umgesetzten und nun erstmals dokumentierten) Sanierung des Kolumbus- Hauses befasst, und zwar im Auftrag der einflussreichen Kulturdirektorin Caterina Marcenaro, die den aus einer Genueser Architektendynastie stammenden, aber 1905 in Mailand geborenen und dort ausgebildeten Gardella nach Ligurien zurückholte. In Genua entstand auch sein letztes grosses Werk, die von 1981 bis 1990 zusammen mit Aldo Rossi und dem Tessiner Fabio Reinhart in einem postmodernen Idiom durchgeführte Wiederherstellung der Ruine des Genueser Opernhauses, eines Meisterwerks des Klassizisten Carlo Barabino. Obwohl diese Arbeit viel diskutiert wurde, nahm die internationale Architekturwelt erst von Gardella Notiz, als er 1996 - drei Jahre vor seinem Tod - für sein Lebenswerk den Goldenen Löwen der sechsten Architekturbiennale von Venedig erhielt.

In der Lagunenstadt leuchtete sein Stern nämlich noch immer, hatte er hier doch in den fünfziger Jahren mit der Casa alle Zattere eine «Ca' d'oro der Moderne» geschaffen, wie der grosse Kunsthistoriker Carlo Giulio Argan festhielt. Die spannende Genese dieses grossbürgerlichen, den venezianischen Palazzo neu interpretierenden Apartmenthauses, dessen Hauptfassade Gardella immer wieder umformulierte, nimmt in der Genueser Ausstellung zu Recht einen Ehrenplatz ein. Die nüchtern und übersichtlich gestaltete, aber umständlich beschriftete Schau, die von nicht weniger als sechs Kuratorenteams betreut wurde, erforscht - nach einem der Architektenfamilie gewidmeten Prolog - in fünf Sektionen Gardellas Auseinandersetzung mit fünf Städten, die jeweils «das Szenario für Gardellas entwerferische Ansätze lieferten». Den Auftakt macht Alessandria, wo Gardella zwischen 1933 und 1938 mit der luftig transparenten Tuberkuloseklinik einen vom italienischen Rationalismus und von der internationalen Moderne gleichermassen geprägten Vorzeigebau schuf. Nach dem Krieg verdichtete er die dort erworbenen Kenntnisse im Mailänder Padiglione d'Arte Contemporanea (PAC) zu einem wegweisenden Ausstellungsbau, der noch in Pianos Beyeler-Museum nachklingt.

Geradlinig war Gardellas Schaffen nie: So entstand 1952 - zeitgleich mit dem PAK - in Alessandria die Casa Borsalino, ein achtgeschossiges, kubistisch gebrochenes Mehrfamilienhaus, das mit seinen Ziegelmauern, Fensterläden und vorspringenden Dachkonstruktionen als Manifest des antimonumentalen Neorealismus über José Antonio Coderch die spanische Architektur beeinflusste und gleichsam Entwurfsideen unserer Zeit vorwegnahm. Noch plakativer wurde das Ländlich-Einfache des neuen «Stils» in der vier Jahre später zusammen mit Franco Albini und dem Büro BBPR errichteten INA-Siedlung in Cesate umgesetzt. Zwischen diesen beiden neorealistischen Bauten für die Arbeiterklasse entstand in Mailand die vornehme Casa al Parco mit fünf riesigen Luxusapartments und einer filigranen Parkfassade, welche während des Baus leider stark verändert wurde. Die wissenschaftliche Analyse dieses Projektes im vorzüglichen Katalog zeigt denn auch, wie schon kleine Eingriffe ein Werk verunstalten können.

Versuchte Gardella in Mailand die Dynamik der Metropole, in Venedig aber die Lichtverhältnisse über der Lagune architektonisch zu reflektieren, so inspirierte ihn in Genua das geheimnisvolle Dunkle der Altstadt. In Vicenza, der Heimat Palladios, erschien ihm dann alles geometrisch klar. Deshalb basiert sein 1969 entwickelter Theaterentwurf auf einem Quadrat, aus dem das niedrige Dreiecksprisma des Auditoriums und das höhere des Bühnenturms emporwachsen. Mit diesem Projekt inspirierte er als Vermittler von Louis Kahns Ideen in Europa vermutlich auch Botta, der damals an der stark von Gardella geprägten Architekturschule in Venedig studierte.

Material und Detail

Die mit Dutzenden von schwarz gerahmten Plänen, Skizzen und Zeichnungen bespielte Ausstellung, der einige historische Modelle und zahlreiche Fotos etwas Leben einhauchen, macht das Chamäleonartige eines zwischen Rationalismus und Postmoderne pendelnden Œuvres spürbar. Dabei wusste Gardella seine mitunter etwas trocken wirkenden Entwürfe mit viel Sinn für Details und Materialien in Bauten von grosser Strahlkraft umzusetzen. Diese baukünstlerische Transformation versuchen die Kuratoren in der Ausstellung anhand des nicht realisierten Theaters von Vicenza nachvollziehbar zu machen, indem sie das Skizzen- und Planmaterial einem meterhohen, in hellem Stein ausgeführten Modell gegenüberstellen. Doch erst bei der Besichtigung der Gebäude der Architekturfakultät vor Ort kann man erleben, wie sehr Gardella, der ursprünglich Bauingenieur studiert und sich in den fünfziger Jahren auch als Designer betätigt hatte, ein der Sinnlichkeit der gebauten Formen verpflichteter Architekt war, der alle Theorie ins Leben überführen musste. Darin glich er seinen gleichaltrigen Kollegen Franco Albini und Carlo Mollino, die derzeit im Rahmen der Trilogie «Costruire la modernità» in Mailand und Turin ebenfalls mit (für Italien nicht untypischen) verspäteten Jubiläumsausstellungen geehrt werden.

[ Bis 30. Januar im Palazzo Ducale, Genua. Katalog: Ignazio Gardella 1905-1999 (italienisch). Hrsg. Marco Casamonti. Electa, Mailand 2006. 291 S., Euro 40.- (Euro 35.- in der Ausstellung). ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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