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Baukünstlerisches Inselhüpfen
Neue Zürcher Zeitung

Die erste Biennale für Architektur, Kunst und Landschaft auf den Kanarischen Inseln

Probleme der globalisierten Welt wie Verkehr, Zersiedelung, Umweltzerstörung oder Migration sind Themen der ersten Biennale für Architektur, Kunst und Landschaft auf den Kanarischen Inseln. Entstanden ist eine vielseitige Schau, die durchaus zum Nachdenken anregt.

1. Februar 2007 - Roman Hollenstein
Der Massentourismus verschaffte den Kanaren einen zweifelhaften Ruf - nicht ganz zu Unrecht, denn weite Küstenstriche sind, wie überall in Spanien, durch baulichen Wildwuchs und Spekulation verschandelt. Wer sich jedoch in abgelegenere Winkel oder in die Berge begibt, wird immer noch die Magie einer grossartigen Natur erleben. Seit Jahren versuchen die Inseln zudem mit einem ambitiösen Musikfestival zu signalisieren, dass sie neben Sonne, Meer und Landschaft auch Kultur zu bieten haben. Mit mehr als 12 Millionen Gästen jährlich ist der vor Nordwestafrika gelegene Archipel nicht nur eine der meistbesuchten Gegenden der Welt; er lockt auch Scharen von Europäern an, die im Land des ewigen Frühlings ihren Lebensabend verbringen möchten. Dies alles bewirkte einen Wirtschaftsboom, der aus der kleinen Inselwelt die nach Katalonien und Madrid reichste Region Spaniens machte - mit vielen negativen Folgen. So sind die Städte im Norden von Gran Canaria und Teneriffa zu chaotischen Agglomerationen mit Hunderttausenden von Einwohnern und ebenso vielen Autos zusammengewachsen. Hier, wo wie in einem Schwellenland der öffentliche Verkehr ein Schattendasein für Minderbemittelte und Touristen fristet, ist die Fahrzeugdichte höher als sonstwo in Europa. Das führt im Grossraum von Santa Cruz de Tenerife dazu, dass - trotz der derzeitigen Einführung des Trams - der Verkehr auf den acht- bis zwölfspurigen Stadtautobahnen chronisch kollabiert.

Verkehrschaos und Nachhaltigkeit

Wie brennend das Verkehrsproblem ist, zeigte das in der zweiten Januarhälfte im Präsidentenpalast in Santa Cruz - einem von Artengo Menis Pastrana (AMP) realisierten Meisterwerk der neuen spanischen Architektur - veranstaltete Symposium zum Thema «Islas móviles». An diesem diskutierten etwa der Städteplaner Jaime Lerner, der Architekt Dominique Perrault, der Philosoph Javier Echeverría, der Anthropologe Manuel Delgado und der Klimatologe Stephan Bakan die Auswirkungen von Mobilität und Zersiedelung auf Stadt und Mensch. Dabei forderte Lerner, der ehemalige Bürgermeister der brasilianischen Vorzeigestadt Curitiba, mehr Kreativität und politischen Willen hinsichtlich der Verkehrspolitik und der Förderung einer solidarischen und nachhaltig agierenden Gesellschaft.

Die in den spanischen Medien vielbeachtete Veranstaltung bildete einen Höhepunkt der von Rosina Gómez-Baeza, der einstigen Leiterin der Madrider Kunstmesse Arco, initiierten ersten Biennale für Architektur, Kunst und Landschaft auf den Kanaren. Gleichzeitig konnte das Architektenkollegium von Teneriffa eine aufschlussreiche Ausstellung über die neuere kanarische Baukunst eröffnen. Vor seinem 1971 von Javier Díaz- Llanos und Vicente Saavedra in skulpturalem Betonbrutalismus errichteten Verwaltungssitz in Santa Cruz wurde dazu ein schneckenförmiger Low-Tech-Pavillon aus Holz und Stahl erstellt. Darin zeichnen Videos die Entwicklung einer die vulkanische Topographie und die lokale Tradition immer wieder neu interpretierenden Architektur seit den 1950er Jahren nach, während die Baukunst der letzten 25 Jahre anhand von 90 durch den Premio Manuel de Oraá ausgezeichneten oder gelobten Bauten vorgestellt wird. Dieser Preis förderte zusammen mit der Architekturzeitschrift «Basa» die baukünstlerische Qualität entschieden, auch wenn der architektonische Alltag auf den Inseln weiterhin chaotisch ist.

Die Schau zeigt, dass Santa Cruz de Tenerife, das mit neuen Trendlokalen wie dem «Abokados» oder dem «Atlantida» vom Image eines hässlichen Entleins wegzukommen sucht, zum eigentlichen Zentrum des architektonischen Aufschwungs geworden ist. Nachdem hier AMP erste Akzente gesetzt hatten, machte sich die Stararchitektur mit dem Kongresszentrum und der weissen Riesenwelle des Auditoriums von Calatrava breit. Nun bauen Herzog und de Meuron das Oscar- Dominguez-Museum und gestalten die Hafenzone neu, dieweil Perraults Entwurf für den Teresitas-Strand im Parteigezänk unterzugehen droht. Zukunftsweisender als diese importierten Renommierbauten aber sind die Arbeiten der neuen Generation, für die in der Ausstellung neben den preisgekrönten Bauten von GPY auch die Entwürfe von Lavin Arquitectos stehen. Diese von einer Leidenschaft für Beton und Lava sowie von dem Interesse an internationalen Trends geprägten Werke zeigen, wie die geschundenen Eilande nachhaltiger bebaut werden könnten.

Noch immer aber sind gut in den Kontext integrierte Bauten die Ausnahme. Darauf will der als wutschnaubende Karikatur bei Valverde auf der noch ziemlich unberührten Insel El Hierro aufgestellte Landschaftsüberwachungssatellit des katalanischen Architekten Elías Torres Tur verweisen. Es handelt sich dabei um eine der wenigen Arbeiten, die im Rahmen der Biennale auf die wachsende Zerstörung der Natur hinweisen. Die anderen stammen ebenfalls von Architekten: etwa die Interventionen von Carme Pinós und Diller und Scofidio auf Lanzarote oder von Iñaki balos auf La Palma.

Die rund 70 aus 35 Ländern und vier Kontinenten angereisten Künstler hingegen suchten meist Halt in altehrwürdigen Bauten - womit die Biennale zum architektonischen Inselhüpfen wird: von dem von José González Pérez realisierten und 1997 mit dem 7. Oraá-Preis geehrten Besucherzentrum auf La Gomera über das spätklassizistische Teatro Chico in der Kolonialstadt Santa Cruz de la Palma bis hin zu den Klöstern und Palästen des hoch über Santa Cruz de Tenerife gelegenen alten Bischofssitzes La Laguna. Dort richtete der Marokkaner Younès Rahmoun im Hinterhof der frühbarocken Casa de los Capitanes eine Art Marabout-Grabmal aus Holz als mystischen Farbmeditationsraum her, während sein 24-jähriger ägyptischer Kollege Mahmoud Khaled den zweiten Kreuzgang des Augustinerklosters mit islamischen Dekorationen schmückte, wohl um die oft ängstlich beschworene muslimische Rückeroberung Spaniens anzudeuten.

Kunst und Migration

Viele Künstler aber geben sich damit zufrieden, nur ganz oberflächlich ihre individuellen Mythologien mit den die Kanaren (wie viele andere Länder) quälenden Themen wie Klimaerwärmung, Bevölkerungsexplosion oder Migration in Verbindung zu bringen - so der auch hierzulande bekannte Venezolaner Javier Téllez mit seiner suggestiven Löwenprozession in den Slums von Caracas. Die vielleicht eindrücklichste Arbeit der ganzen Biennale zeigt der Chilene Alfredo Jaar im Kulturzentrum El Tanque in Santa Cruz. Der 1997 von AMP zu Veranstaltungszwecken umgebaute Öltank ist an sich schon eine Sehenswürdigkeit. Beim Betreten der dunklen Halle breitet sich allmählich über den Besuchern eine Wolke aus; und über Kopfhörer ist der an die Regierungen des Westens gerichtete Bittbrief von zwei im August 1999 in Brüssel erfroren im Fahrgestell eines Flugzeuges entdeckten Schülern aus Mali zu vernehmen, begleitet von der Musik des vor einem Jahr verstorbenen Ali Farka Touré.

Die Einheimischen denken hier sogleich an die Zehntausende von Bootsflüchtlingen, die jedes Jahr ihr kleines Paradies erreichen wollen. Ihnen galt Ende Januar das Afrika-Symposium der Architekturfakultät von Las Palmas. Zeitgleich wurde im Ausstellungszentrum La Regenta eine Schau eröffnet, in welcher Rem Koolhaas zusammen mit Büros wie Actar, MVRDV und Studio Pei Zhe anhand von Studien über Lagos, Mexiko oder Peking «Wachstumsszenarien» skizziert. - Kurz: Die Themen dieses Veranstaltungsreigens könnten die Biennale und die zwischen drei Kontinenten gelegenen Kanaren zu einem idealen Ort der Auseinandersetzung mit den Problemen der globalisierten Welt machen.

[ Die meisten Ausstellungen dauern bis 10. Februar; die «Wachstumsszenarien» in Las Palmas bis 18. Februar. Katalog: Guía de la 1 Bienal de Arquitectura, Arte y Paisaje de Canarias (spanisch/englisch). Hrsg. Rosina Gómez-Baeza. Gobierno de Canarias, Las Palmas 2006. 221 S., Euro 15.- (ISBN 84-7947-428-9). Ein Katalog zur neuen kanarischen Architektur ist in Vorbereitung. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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