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Unter himmelblauen Wellen
Neue Zürcher Zeitung

Das Siobhan Davies Dance Centre von Sarah Wigglesworth in London

Seit einigen Jahren gewinnt der Londoner Stadtteil Southwark an Attraktivität. Dort hat die Architektin Sarah Wigglesworth ein früheres Schulgebäude zu einem Tanzstudio umgebaut.

2. März 2007 - Hubertus Adam
Vielleicht war die Infantin von Kastilien, wenn auch in verballhornter Form, Namensgeberin: Elephant & Castle hiess das Pub, dessen Erinnerung der gleichnamige Verkehrsknoten südlich der Themse in London bewahrt. Der «Elephant», so die übliche Kurzform in der britischen Kapitale, ist eigentlich ein Unort: zwei verkehrsreiche Plätze, verbunden durch eine kurze Strasse; ein von grobschlächtigen Blöcken gefasster Brennpunkt der autogerechten Neudefinition der Metropole nach dem Zweiten Weltkrieg. Seit jüngstem unterliegt das Gebiet der Transformation: Den Anfang machte das von Ernö Goldfinger 1963 realisierte und zuletzt verwahrloste Büro- Ensemble des Department of Health and Social Security, dessen Stahlbetonstruktur nach seiner Umnutzung zu Wohnzwecken wieder als Preziose der späten Moderne zu wirken vermag. Vor knapp zwei Jahren hat das Southwark Council nun ein Regenerationsprogramm mit dem Ziel lanciert, Elephant & Castle bis zum Jahr 2012 einer grundsätzlichen Transformation zu unterziehen. Die Massnahmen starteten mit der Beseitigung der unwirtlichen Fussgängerunterführungen und sollen in der Errichtung eines neuen Einkaufszentrums und zweier multifunktionaler Hochhäuser gipfeln.
Grosse und kleine Transformationen

Verglichen mit diesen aufwendigen Vorhaben nehmen sich die unlängst eröffneten Siobhan Davies Studios bescheiden aus. Doch dass die 1988 gegründete Tanztruppe von Siobhan (Sue) Davies ein festes Haus erhalten hat, ist nicht nur gut für die freie Londoner Tanzszene, sondern auch für den Borough of Southwark. An der St. George's Road, auf halbem Weg zwischen Elephant und dem Imperial War Museum, ist mit dem Studio ein kultureller Hot Spot entstanden, der zur Aufwertung des Quartiers beitragen kann und damit einen neuerlichen Anziehungspunkt in den lange Zeit vernachlässigten Quartieren südlich der Themse darstellt.

Aufsehen erregt das Dance Centre schon aufgrund seiner Baulichkeit. Die Umgestaltung eines früheren Schulgebäudes unternahm die Londoner Architektin Sarah Wigglesworth, die vor einigen Jahren mit ihrem eigenen Wohn- und Bürohaus in Islington bekannt wurde (NZZ 5. 4. 02). Das bizarre Gebäude, dessen Wände unter anderem aus Sandsäcken und Strohballen bestehen, hat mit Londoner Hightech-Architektur ebenso wenig zu tun wie mit dem komplementären Trend zu einer minimalistischen Materialästhetik. Auch die Siobhan Davies Studios dokumentieren Wigglesworth' pragmatische und zugleich unkonventionelle Haltung. Von dem bestehenden Ziegelbau, dessen älterer Teil aus dem Jahr 1898 stammt, blieb bestehen, was man weiter benötigen konnte: grosse Teile der äusseren Fassaden, einige Räume im Erdgeschoss. Herausgebrochen wurde indes das die neue Nutzung störende Treppenhaus in der Mitte, für das an der Rückseite Ersatz geschaffen wurde; eine mit Drahtgittern verkleidete Fluchttreppe steht überdies als Turm vor der östlichen Gebäudestirn.

Zeichenhafte Dachlandschaft

Wo einst das Treppenhaus das Gebäude teilte, ist jetzt ein offenes, weiträumiges Foyer entstanden, das zwei Ebenen übergreift. Um diese Halle gruppieren sich Büros, Empfang und Lounge im Parterre sowie Garderoben und ein Probesaal in der Etage darüber. Die gesamte Ebene des zweiten Obergeschosses nimmt das grosse Tanzstudio ein, das auch für öffentliche Aufführungen genutzt werden kann. Überdeckt ist der Saal mit fünf schalenartigen Elementen, gleichsam verdrehten Sheds, die es erlauben, dass von Westen und von Osten Licht in das Innere fällt.

Aussen bestehen die gestaffelten Schalen aus himmelblauem, glasfaserverstärktem Kunststoff - die wellig-aufbrandende Dachlandschaft hinter den früheren Giebeln ist zum unübersehbaren Wahrzeichen des Umbaus geworden. Im Inneren wurde die verdrehte Dachstruktur mit hellem Holz verkleidet. Spiegel und Stangen, wie man sie von anderen Tanzstudios kennt, sucht man hier vergeblich, weil Davies diese Form von Training ablehnt.

Während der Dachaufbau sich als Hinzufügung präsentiert, blieben die Spuren der früheren Nutzung in den unteren Ebenen weitgehend erhalten. Architektin und Nutzer haben ganz offensichtlich zu einem harmonischen Miteinander gefunden.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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