Artikel

Schöne neue Welten
Neue Zürcher Zeitung

Architektur im Zeitalter der Digitalisierung

24. März 2007 - Hubertus Adam
Porträts aus den zwanziger oder dreissiger Jahren zeigen Architekten vielfach im weissen Kittel. Die Berufskleidung schützte vor dem Abrieb von Grafit und Kohle, vor Flecken von Tusche und Tinte. Wer heute ein Architekturbüro betritt, fühlt sich hingegen fast wie in einem Apple-Showroom: Entworfen und gezeichnet wird am Computer, Reissschiene und Tusche haben ausgedient. Architekturprojekte entstehen auf der Basis von CAAD (Computer Aided Architectural Design). Allerdings zählten zunächst die Entwicklungs- und Designabteilungen der Automobil-, Luft- und Raumfahrtkonzerne sowie der Militärindustrie zu den Einsatzgebieten des computergestützten Designs, bevor dieses in den achtziger Jahren in den Architekturstudios Einzug hielt. Der hohe Preis und die Tatsache, dass die Entwurfsprogramme einem anderen Kontext entstammten und für den Bereich der Architektur erst adaptiert werden mussten, erklären die zeitliche Verzögerung. Leistungsfähigere Rechner, spezifischere Software und günstigere Anschaffungskosten führten in den neunziger Jahren dazu, dass sich das digitale Entwerfen flächendeckend durchsetzte.

Gehry als Protagonist

Das Potenzial der neuen Technologien wurde erst allmählich erkannt und genutzt. Zunächst verwendeten Architekten den Computer im herkömmlichen Sinne als Entwurfswerkzeug, das die bisher manuell ausgeführten Prozesse schneller und präziser auszuführen imstande war. Gerade komplexe Geometrien, die - wenn überhaupt - nur mit Mühe zu berechnen waren, liessen sich nun realisieren. Frank O. Gehry war einer der Ersten, die sich der neuen Programme bedienten. Seine spektakulären Bauten, vom Guggenheim Museum in Bilbao bis zur Disney Concert Hall in Los Angeles, wären ohne die ursprünglich für den Flugzeugbau entwickelte Software «Catia» nicht umsetzbar gewesen. Dabei geht Gehry wie ein Plastiker vor: Aus Holz, zerknülltem Papier und anderen Materialien entstehen Modelle, die dreidimensional gescannt und somit digitalisiert werden. Die vorab festgelegte Form wird am Computer gleichsam «ausgerüstet» - mit dem gewünschten Raumprogramm und dem nötigen Konstruktionssystem. Die Software erlaubt es, die Daten direkt an computergesteuerte Fräsen oder Stanzapparate zu übermitteln, welche die unterschiedlich geformten Schalungsstücke, Tragwerkstrukturen oder Fassadenelemente erstellen. So entstehen die frei geformten Stahlblechhüllen, die sich wie textile Überwürfe über die Bauten von Gehry ziehen.

Wichtige Voraussetzung für die Umsetzung der ungewohnten Formen, wie sie Gehry und andere Architekten ersinnen, ist die digitale Kette vom Entwurf bis zur Ausführung. Da CNC- Fräsen Werkstücke in jeder beliebigen Form zuschneiden können, wird die einstige Opposition von Unikat und Massenfabrikat tendenziell obsolet. Der Begriff «mass customization» bezeichnet die Massenproduktion von Einzelstücken, welche bisherige Gewissheiten der Architektur in Frage stellt. Der Kampf gegen das Ornament, den die Architekten seit Adolf Loos führten, war stets auch ökonomisch begründet. Ornamente galten als Verschwendung, und ein wesentliches Ziel der Moderne bestand darin, durch Standardisierung nach dem Baukastenprinzip die Ausführung zu vereinfachen und Baukosten zu senken.

«Mass customization» eröffnet neue Möglichkeiten der Individualisierung. Allerdings weisen die Arbeiten auf der Baustelle bis heute einen hohen Grad an handwerklichen Prozessen auf, bei denen die digitale Kette endet. Gegenüber der Montage eines Autos mutet der Guss von Betonwänden wie ein archaisches Ritual an. Frei geformte Gebäude, etwa Zaha Hadids Wissenschaftsmuseum Phæno in Wolfsburg oder das Mercedes-Benz-Museum von UN Studio in Stuttgart, lassen sich heute zwar berechnen und bauen, erfordern jedoch einen hohen Kostenaufwand.

Von den radikaleren Verfechtern eines digitalen Entwerfens wird Gehrys Vorgehen als altmodisch und inkonsequent angesehen. Aus ihrer Perspektive besteht der gravierende Fehler darin, den Formfindungsprozess aus der digitalen Kette auszuklammern. Gehry verkörpert den sich als Künstler verstehenden Demiurgen, der in traditioneller Weise eine Form entwirft, für deren Umsetzung der Computer lediglich das Hilfsmittel darstellt. Demgegenüber postulieren seine Kritiker eine Ausdehnung der digitalen Kette in die Phase des Entwurfs hinein. Damit wandelt sich das Bild des Architekten: vom omnipotenten Formfinder hin zum Auslöser und Steuerer der Formgenerierung. Die Form ist folglich nicht mehr die Setzung des Subjekts («top down»), sondern Resultat der an den Rechner delegierten Optimierungsprozesse («bottom up»). Interessant ist diese Wendung zur Prozesshaftigkeit, weil sie es ermöglicht, verschiedene Disziplinen und Anforderungen von Anfang an zu integrieren. Der Widerspruch zwischen immaterieller Entwurfsidee und der Welt der Tektonik wird zugunsten einer digitalen Tektonik aufgehoben, bei der die Arbeit des Ingenieurs von Anfang an in den Entwurfsprozess einfliesst.

Die Dezentrierung des schaffenden Subjekts bei der von Neil Leach und anderen formulierten Theorie der «Morphogenese» führt allerdings zu einem befremdlichen biologistischen Verständnis von Architektur. War es Protagonisten des Dekonstruktivismus wie Peter Eisenman noch darum gegangen, die Differenz zwischen Idee und gebauter Realität zu thematisieren, so ist die Architektur mit den radikalen Vertretern digitalen Entwerfens, etwa Greg Lynn oder Foreign Office Architects, in ein nach-kritisches Stadium eingetreten. Dem Selektionsprinzip in der Biologie entsprechend, wird der Entwurfsprozess als ein fortgesetzter Prozess der Integration, Homogenisierung und Optimierung verstanden.

Obsessive Bildlichkeit

Diese Haltung verbindet sich mit einem digitalen Technikkult, gemäss dem die Formen gleichsam als naturgegebene und zwingende Resultate automatischer Prozesse gelten. Vordergründig wird eine ästhetische Dimension der Form geleugnet - und doch beeindrucken die heutigen Computerentwürfe durch ihre Bildlichkeit und zeichnerische Perfektion. Dass die neo-organische Blob- Architektur selbstverständlich auch formale Entscheidungen des handelnden Subjekts verlangt, wird gerne verschwiegen. Die Form des D-Tower, den der niederländische Architekt Lars Spuybroek im niederländischen Doetinchem realisierte, lässt sich zwar aus verschiedenen Strategien digitalen Entwerfens erklären, aber eine nachts in verschiedenen Farben leuchtende Architekturplastik könnte auch anders aussehen.

Durchaus wahrscheinlich ist, dass unsere Epoche obsessiver computergenerierter Bildlichkeit, welche die Realität mehr und mehr zu simulieren vermag, in absehbarer Zeit an ihr Ende gelangt. Angesichts globaler Probleme steht die Architektur vor sich wandelnden Herausforderungen, und es ist zu vermuten, dass das digitale Entwerfen in Zukunft seinen auf sich selbst bezogenen Charakter verliert.

[ Der Kunsthistoriker Hubertus Adam ist Redaktor der Zeitschrift «archithese» in Zürich. ]

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: