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Mythos, Brachen, Branding
deutsche bauzeitung

Schweizer Bergdörfer zwischen Abwanderung und Erneuerung

7. Mai 2007 - Hubertus Adam
Über Jahrhunderte prägte ein rurales Selbstverständnis die Identität der Schweiz; Dörfliche Strukturen finden sich nicht nur in den ländlichen Gemeinden, sondern wurden auch auf die Städte übertragen. Sie bestimmten Wohnungsgrößen ebenso wie das Prozedere der politischen Entscheidungsbildung. Auch wenn die Zahl der Bewohner, die ihr Einkommen aus der Landwirtschaft beziehen, seit Langem rückläufig ist, das Selbstbild blieb bis vor einigen Jahren erstaunlich konstant. Wenn es nach der Meinung einiger ginge, sähe die Schweiz vielleicht bald nicht mehr so aus, wie es die Bilder des Artikels zeigen.

Die Schweiz vollzieht seit einiger Zeit einen Imagewandel: weg vom ländlich geprägten Idyll hin zu einem modernisierten Bild des Landes. Dass auch die lokale Tourismusorganisation Zürich nicht mehr als »Little Big City«, sondern als »Downtown Switzerland« vermarktet, ist dabei eher nebensächlich. Als signifikanter muss man das beinahe völlige Fehlen des Sektors Landwirtschaft auf der Schweizerischen Landesausstellung Expo.02 einstufen. Auf allen Landesausstellungen zuvor war der rurale Mythos als ein Kernelement der eigenen Identität inszeniert worden; im Jahr 2002 zeigte er sich völlig marginalisiert.

»Alpine Brachen«

Am deutlichsten in Frage gestellt wird das agrarische Selbstverständnis des Landes durch die Ende 2005 publizierte Studie »Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt« des ETH Studio Basel. In der Veröffentlichung, die Jacques Herzog und Pierre de Meuron gemeinsam mit Studenten sowie mit ihren Kollegen Marcel Meili, Roger Diener und dem Wirtschaftsgeografen Christian Schmid am Studio Basel der ETH Zürich erarbeit haben, geht es um die sachliche Analyse dessen, was die Schweiz heute ausmacht, gewissermaßen um ein neues »Branding«. Attestiert wird dem Land ein hohes Maß an Urbanisierung, welche auch die entlegenen Regionen ergriffen hat. Das Problem sehen die Autoren in einer nicht zuletzt aufgrund der Gemeindeautonomie fortschreitenden Nivellierung – das Postulat, überall gleiche Lebensbedingungen zu schaffen, wird zunehmend zum Problem. Am umstrittensten sind die Aussagen der Verfasser zu den geografischen Bereichen, die sie als »alpine Brachen« bezeichnen. Dabei handelt es sich um alpine Siedlungsräume, deren Ökonomie heute weitgehend auf diverse Transferleistungen angewiesen ist. Bekannt sind Subventionen für die Berglandwirtschaft, doch weitaus größere Kosten entstehen durch die Aufrechterhaltung der Infrastruktur sowie die Sicherung der Siedlungsgebiete und Verkehrswege gegen Naturgefahren wie Lawinen und Hochwasser. Da die »alpinen Brachen« ohnehin seit langem von einer kontinuierlichen Tendenz der Abwanderung und Entvölkerung betroffen sind, schlägt das ETH Studio Basel den kontrollierten Rückzug vor, weil »für diese Gebiete das traditionelle Modell der Bestandswahrung keine Perspektiven mehr eröffnet«. Sie exemplifizieren die Idee der Abwanderung am Beispiel des Calancatals, deren 500 Bewohnerinnen und Bewohner von Bund und Kanton jährlich 4 Mio Franken für Infrastrukturmaßnahmen und 0,9 Mio an Agrarsubventionen erhalten. Aus ökonomischen und ökologischen Überlegungen sei es sinnvoller, Siedlungen im zentralen Alpenraum aufzulösen und den Siedlungsraum der Natur zurückzugeben.

»Alpine Chancen«

Der Architekt Gion A. Caminada ist ein entschiedener Gegner dieser Überlegungen. Er unterrichtet an der ETH Zürich – und arbeitet als Architekt in seinem Heimatdorf Vrin. Zu seiner Ausstellung 2005 in Meran legte er »Neun Thesen für die Stärkung der Peripherie« vor. Caminada hofft auf Impulse, die von der Peripherie ins Zentrum ausstrahlen, und sieht die alpine Kulturlandschaft als größtes ökonomisches Kapital der Alpen: »Landschaft und Kultur sind wichtige Faktoren für den Tourismus. Kultur bedeutet Kultivierung und meint die Veredelung von dem, was auch Natur sein kann. Kultur zu haben bedeutet aber auch, anders zu sein. Globale Normen sind die größten Feinde der Natur. Der Kulturtourist sucht eine Gegenwelt zu seiner eigenen Kultur.« Auch Produktionsprozesse könnten – so postuliert er – wieder in der Peripherie stattfinden.

Das Dorf Vrin

Vrin, wo Caminada lebt und arbeitet, ist ein abgelegener Ort im Lumneziatal, ein Bergbauerndorf, in dem der Asphalt seitlich der Hauptstraße aussetzt. Wer hierhin gelangt, unternimmt eine Zeitreise: Ziegen und Kühe laufen durch das Dorf, die Häuser werden seit alters her aus Holz errichtet – nur Kirche und Schule bestehen aus Stein. Wie viele Dörfer in den Alpen befand sich auch Vrin in einer Krise: Die Bevölkerungszahl nahm ab – 1950 zählte man 441 Einwohner, 2000 nur noch 249. Seit Inkrafttreten des interkantonalen Finanzausgleichs (1958) erhält das Dorf Transferleistungen zur Sicherung seines eigenen Haushalts. Dazu kommen Gelder, die als Kompensationszahlungen für das nicht realisierte Greina-Kraftwerk gezahlt werden; die geplante Anlage hätte den beiden Gemeinden Vals und Sumvitg jährliche Einnahmen von 2,4 Mio Franken gebracht, doch wurde die Realisierung seitens der Betreiberin »Nordostschweizerische Kraftwerke« gestoppt. Für die heutige Struktur des Dorfes entscheidend ist die »Gesamtmelioration«, deren Planung 1982 begann. Aus den früher bestehenden 3500 kleinen bewirtschafteten Parzellen wurden nach Abschluss des Programms, das Forderungen der Landwirtschaft, der Raumplanung und des Umweltschutzes zu vereinen hatte, 600. Zu etablieren waren neue, konkurrenzfähige Formen landwirtschaftlicher Betriebe. Indem Caminada den in Graubünden seit alters her üblichen Strickbau in einen anderen Maßstab übertrug, sorgte er dafür, dass dies nicht in Form der omnipräsenten Banalarchitektur geschah. So entwickelte er für die großen Ställe, die ortsbildschonend am Rande der Siedlung entstanden, ein System präfabrizierter modularer Elemente – aus dem Verständnis der Moderne heraus wurde eine althergebrachte Bauweise neu formuliert. Realisiert wurden neben diversen privaten Bauten auch die Mehrzweckhalle und ein von der Bauern-Genossenschaft betriebenes Schlachthaus mit Direktvermarktung, außerdem, an der Schnittstelle von Friedhof und Dorfplatz, die so genannte Totenstube, in der die Verstorbenen aufgebahrt werden und Kleinstarchitekturen wie beispielsweise eine Telefonzelle in Strickbau- technik. Seit mehr als 15 Jahren ist Caminada der Architekt, der Vrin und seine Umgebung prägt. Eine Baugesetzgebung, die man inzwischen erlassen hat, unterstützt die Anliegen: Eine Bauberatung ist obligatorisch, eine Einzäunung ist nur zum Schutz von Tieren zulässig und die Topografie eines Grundstücks darf nur verändert werden, wenn dadurch Orts- und Landschaftsbild nicht beeinträchtigt werden. Die Leistungen zur Erhaltung des Ortsbilds von Vrin sind inzwischen mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Ohne Zweifel ist hier ein vorbildliches und nachhaltiges Konzept umgesetzt worden, selbst wenn es in Zukunft nicht gelingen sollte, Vrin zu einem sich selbst finanzierenden Dorf zu entwickeln. Eine gewisse Hoffnung ruht auf einem umweltverträglichen Tourismus, für den sich die 1990 installierte Initiative »Pro Val Lumezia« einsetzt. Doch der Tourismus ist eine zweischneidige Angelegenheit: Peter Zumthors Therme Vals im Nachbartal ist so erfolgreich, dass einige Bewohner des Ortes inzwischen über den Zustrom von Besuchern klagen. Nicht ohne Grund wird Vals denn auch von den Autoren des ETH Studio Basel nicht mehr als »alpine Brache«, sondern als »alpines Ressort« klassifiziert.

Dorfbewohner als Kulturpfleger

Welche Probleme der Erhalt von Bergdörfern in der Schweiz gemeinhin bereitet, lässt sich in den meisten Regionen der Schweiz beobachten. Die gewaltigen Engadinerhäuser um St. Moritz werden bei Bewahrung der äußerlichen Hülle zum Beispiel zu Luxusapartments umgebaut, innerhalb des Mauerkranzes von Tessiner Rustici entstehen Ferienwohnungen. Das abgelegene Vrin ist von derlei Entwicklungen verschont geblieben; indem die ökonomische Erwerbsstruktur lediglich leicht modernisiert wurde, ist ein radikaler Strukturwandel ausgeblieben. Natürlich bedarf es dazu kontinuierlicher Transferleistungen – doch sind Subventionen hier zweifelsohne besser eingesetzt als anderswo. Vielleicht kann die Studie des Studio Basel trotz ihrer Zuspitzungen dazu beitragen, Gelder bewusster zu verteilen. Der Dorfbewohner erhielte dann Subventionen für seine Leistungen als Landschafts- und Kulturpfleger.

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Für den Beitrag verantwortlich: deutsche bauzeitung

Ansprechpartner:in für diese Seite: Ulrike Kunkelulrike.kunkel[at]konradin.de

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