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Spross einer Künstlerfamilie mit Sinn für das Rationelle
Neue Zürcher Zeitung

Zum heutigen 100. Geburtstag des Architekten und Kunstmäzens Bruno Giacometti

Es beeindruckt, wenn ein Mensch hundert Jahre alt wird. Es tut dies umso mehr, wenn die Person Teil der nationalen Geschichte geworden ist und zudem mit wachem Geist darüber Auskunft geben kann. Ein solches Faszinosum ist Bruno Giacometti, der heute in Zollikon bei guter Gesundheit seinen 100. Geburtstag feiert.

24. August 2007 - Sonja Hildebrand
Bruno Giacomettis schönster Bau steht in Venedig. Der 1952 eingeweihte Schweizer Biennale-Pavillon ist ein Kabinettstück heiter-eleganter Ausstellungsarchitektur. Von aussen präsentiert sich das kleine Gebäude als frei komponierte Gruppe teils offener, teils überdeckter Hofräume. Der Dialog zwischen innen und aussen entfaltet sich besonders eindrücklich im tonnengewölbten Skulpturensaal und dem vorgelagerten Gartenhof, zu dem sich der Saal auf ganzer Höhe öffnet. Keine Fensterwand, sondern nur ein quer vor dem Ausstellungsraum verlaufender gedeckter Weg vermittelt ins Freie. Ein in den Skulpturenhof integrierter Baum bildet das Bindeglied zum alten Baumbestand der Giardini. Architektur, Kunst, Mensch und Natur erscheinen im Sinne einer «humanen» Moderne in Einklang gebracht.

Künstlerfamilie

Architektur und Kunst sind die beiden grossen Themen im Leben von Bruno Giacometti, dem hauptsächlich in Zürich und Graubünden tätigen Architekten, der am 24. August 1907 in die berühmteste Schweizer Künstlerfamilie des 20. Jahrhunderts hineingeboren wurde. Der Vater Giovanni Giacometti stand damals am Beginn einer internationalen Karriere als Maler. Nach Studienjahren im Ausland war er in seine Heimat zurückgekommen, das abgeschiedene und zugleich weltoffene Auswanderer- und Heimkehrertal Bergell. Dorthin reisten auch die Freunde des Vaters. So Cuno Amiet, der Taufpate von Brunos ältestem Bruder Alberto, oder Ferdinand Hodler, der Brunos Patenonkel wurde.

Vor diesem Hintergrund erscheint Bruno Giacometti mit seinem Interesse für Technik geradezu als Ausbrecher aus der Familientradition. An der ETH Zürich schrieb er sich 1926 zunächst für ein Ingenieurstudium ein. Doch das Berufsziel Schiffsingenieur stellte sich bald als schwer erreichbar heraus. Den Wechsel zur Architektur bewirkte ein Freund, der Giacometti mit dem Unterricht von Karl Moser, dem «Vater der Schweizer Moderne», bekannt machte. Durch Moser habe er gelernt, so Giacometti, dass Architektur mehr ist als das Entwerfen von Fassaden. Das Diplom machte Giacometti 1930 bei Otto Rudolf Salvisberg, Mosers Nachfolger an der Hochschule.

Grosse Projekte

In der schwierigen Zeit der Weltwirtschaftskrise fand Giacometti 1930 eine Anstellung im Architekturbüro von Karl Egender. Er blieb fast ein Jahrzehnt. Am Ende betraute Egender ihn mit grossen und wichtigen Bauaufträgen wie dem Zürcher Hallenstadion.

Auf der Landesausstellung 1939 war Giacometti im Büro unter anderem für die Modeabteilung verantwortlich. Die von Alberto Giacomettis Biografen James Lord berichtete berühmte Anekdote, dass der Bildhauer eines Tages statt – wie erwartet – eine Skulptur mit Bahn und Lastwagen anzuliefern, eine Schachtel mit einem winzigen Gipsfigürchen aus seiner Tasche zog, hat ihren Schauplatz auf dieser Baustelle am Zürichsee. Bruno Giacometti hatte seinen Bruder ins Spiel gebracht, als es darum ging, eine Skulptur für das Atrium des Modepavillons zu finden.

Nach einem Wettbewerbserfolg machte sich Giacometti 1940 zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt selbständig. Bis Kriegsende verbrachte er insgesamt fast drei Jahre im Militärdienst. Verlorene Jahre, sagt er heute. Das einzige in dieser Zeit realisierte kleine Wohnhaus für einen Cousin entstand in Chur. Um die Baukosten niedrig zu halten, fuhr Giacometti von Zürich mit dem Fahrrad dorthin.

Architekt in Zürich und im Bergell

In den mageren Nachkriegsjahren halfen mitunter befreundete Kollegen wie Rudolf Steiger und Hermann Fietz, die Giacometti für Bauprojekte hinzuzogen. Den Auftrag zum Umbau des Restaurants Roxy, das zum 1930–32 nach Plänen von Steiger, Carl Hubacher und Flora Steiger-Crawford errichteten Zett-Haus gehörte, erhielt Giacometti 1946 ohne Zutun der Architektenkollegen. Teile der von ihm entworfenen Ausstattung, vor allem die karnivorenförmigen Tischlampen, scheinen geradewegs dem surrealistischen Kunstkosmos zu entstammen. Doch den sich einstellenden Verdacht innerfamiliärer Diskussionen bestätigt Bruno Giacometti nicht: Seine Brüder Alberto und Diego hätten sich nicht für Architektur interessiert.

Mit der Bautätigkeit der 1953 gegründeten Bergeller Kraftwerke und der durch diese zu Wohlstand gelangten Gemeinden wurde Giacometti zu einer Art Hausarchitekt seines Heimattals. Aufträge im Engadin und Puschlav folgten. Die Wohnsiedlungen, Postgebäude, Schul- und Gemeindehäuser sind Beispiele einer modernen Architektur, die über das Material, aber auch durch typologische Referenzen regionale Bezüge schafft – in der Haltung dabei ungleich bescheidener als Rudolf Olgiati, der zweite Hauptvertreter eines modernen Regionalismus in Graubünden.

Ein analoges Anknüpfen an örtliche Gepflogenheiten war im urbanen Zürich kein Thema. Sehr wohl aber die Einbettung der Gebäude in den Stadt- oder Landschaftsraum. Davon zeugen unter anderem das 1962 fertig gestellte Stadthaus Uster und die Schweizerische Epilepsie-Klinik (1962-75) am Zürcher Stadtrand.

Kunstvermittler und Mäzen

Nachdem sein Vater 1933 gestorben war, kümmerte sich Bruno Giacometti um den Nachlass. Damit begann ein mäzenatisch geprägtes Engagement, das sich seit dem Tod Alberto Giacomettis 1966 auch auf das Werk des Bruders erstreckt. Dem Kunsthaus Zürich ist Giacometti seit den fünfziger Jahren eng verbunden. Jahrelang war er Mitglied, später auch Präsident der Ausstellungskommission und für die Gestaltung vieler Ausstellungen mitverantwortlich. Den Schweizer Kunstskandal um den Ankauf der Giacometti-Sammlung, der 1965 mit der Gründung der Giacometti-Stiftung endete, hat er hautnah miterlebt. Zuletzt erhielt er zusammen mit seiner Frau Odette 2006 die Heinrich-Wölfflin-Medaille der Stadt Zürich als Anerkennung für die Schenkung von Bronzeplastiken und 75 Originalgipsen aus dem Nachlass der Witwe Alberto Giacomettis.

Bei aller «grossen Kunstgeschichte» ist die Architektur Bruno Giacometti bis heute wichtig geblieben. Für deren Zukunft wünscht er sich, dass sie den Menschen und dessen Lebensraum wieder unangefochten ins Zentrum stellt.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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