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Synthese der Künste
Neue Zürcher Zeitung

Eine grosse Le-Corbusier-Ausstellung im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein

Mittels hervorragender Exponate gibt eine Ausstellung in Weil am Rhein einen mustergültigen Überblick über das vielgestaltige Œuvre Le Corbusiers. Leitidee der Schau ist die Synthese der Künste.

2. Oktober 2007 - Hubertus Adam
Kein Architekt des 20. Jahrhunderts hat seine Zeit und die Nachwelt so entscheidend geprägt wie Le Corbusier (1887–1965). Sein Werk führt vom Reformstil um 1900 über den Neoklassizismus sowie den Purismus der zwanziger und dreissiger Jahre bis hin zum organischen Betonplastizismus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Le Corbusier war vielfältig begabt: als Architekt, als Urbanist, als Künstler. Und er war ein Genie der Selbstinszenierung und eigenen Vermarktung. Sein achtbändiges Œuvre complète, dessen erster Band 1930 erschien, begründete die neue Buchgattung der mehrbändigen Architektenmonografie. Doch daneben stiess Le Corbusiers Publikationsmaschinerie eine Flut von Texten und Traktaten, Artikeln und Büchern aus, von denen manche zu den einflussreichsten ihrer Zeit zählten – etwa das polemisch-plakative «Vers une architecture» von 1923 oder die «Charta von Athen» (1941) der von Le Corbusier mitbegründeten CIAM mit ihrem Postulat einer funktional in die Bereiche Arbeit, Wohnen, Verkehr und Freizeit gegliederten Stadt. Das Charisma des Architekten überstrahlte Fragen der Moral; wiewohl er auf Reisen immer wieder die kleinteilig-traditionelle Lebenswelt fremder Kulturen festhielt, schlug Le Corbusier im Plan Voisin von 1925 vor, das Zentrum von Paris zu planieren und an seiner Stelle auf einem orthogonalen Raster 20 kreuzförmige Hochhäuser zu errichten. Und während des Zweiten Weltkriegs versuchte er sich – erfolglos – dem Vichy-Regime anzudienen. Vielen wäre ein derartiger Versuch der Kollaboration zum Verhängnis geworden – nicht so Le Corbusier, der unmittelbar nach dem Krieg im Auftrag des Wiederaufbauministers Raoul Dautry das Konzept der Unité d'habitation entwickeln konnte.

Atemberaubend und mustergültig

Werk und Aktionsradius des 1917 von seinem Geburtsort La Chaux-de-Fonds nach Paris übersiedelten Charles-Edouard Jeanneret, der sich erst in den zwanziger Jahren das Pseudonym Le Corbusier zulegte, sind so umfangreich, dass der Versuch, den ganzen Corbusier in einer Ausstellung zeigen zu wollen, zunächst wie ein hilfloses Unterfangen erscheinen muss. Die Ausstellung «Le Corbusier. The Art of Architecture», die nach ihrer Rotterdamer Premiere nun in veränderter Form im Vitra-Design-Museum in Weil am Rhein zu sehen ist, bevor sie nach Liverpool und London weiterwandert, belehrt den Besucher eines Besseren. Denn den Zürcher Gastkuratoren Stanislaus von Moos und Arthur Rüegg ist eine atemberaubende Schau gelungen. Aus der Pariser Fondation Le Corbusier, welche den Nachlass verwaltet, konnte eine Vielzahl grandioser Exponate entliehen werden, handle es sich um Originalmodelle, Gemälde und Plastiken, Zeichnungen, Pläne oder Gegenstände aus der umfangreichen Sammlung des Architekten. Die Masse der Ausstellungsstücke bringt den von Dieter Thiel eingerichteten Gehry-Bau nachgerade zum Bersten. Und doch veranstalten die Kuratoren keine Materialschlacht, sondern haben eine intelligente und präzise choreografierte Ausstellung realisiert. Wer wenig vertraut ist mit dem Werk Le Corbusiers, erhält eine mustergültige Einführung; wer sich auskennt, wird durch ungewöhnliche Blickwinkel überrascht und durch exquisite Ausstellungsstücke in Bann gezogen. Mehr kann eine Architekturausstellung nicht leisten.

Die Basis für die Ausstellung bildete die neuste Forschung über Le Corbusier, die das Bild des Architekten und von Teilaspekten des Werks hat vielgestaltiger werden lassen. So ist – nicht zuletzt dank der Restaurierung der Maison Blanche von 1912 in La Chaux-de-Fonds – das Frühwerk stärker in das Blickfeld geraten; und das künstlerische Schaffen erfuhr ebenso verstärkte Aufmerksamkeit wie die Tätigkeit Le Corbusiers als Buchgestalter und Arbeiter am Text. Die Schau folgt weder einer strikten Chronologie, noch werden die einzelnen Arbeitsbereiche separat abgehandelt. Sie sucht berechtigterweise die Synthese – nicht zuletzt, um einem eindimensionalen Verständnis Le Corbusiers vorzubeugen. Gegliedert ist sie in drei Abteilungen: «Contexts», «Privacy and Publicity» sowie «Built Art».

Im Zentrum des ersten, den Kontexten gewidmeten Teils stehen die Orte, die für Corbusier von zentraler Bedeutung waren. Da ist zunächst La Chaux-de-Fonds, wo der ausgebildete Kunsthandwerker zur Architektur fand. Kathartisch wirkten die Reisen nach Deutschland, Frankreich und in den Orient, die er zwischen 1908 und 1911 unternahm – der junge Jeanneret liess den style sapin, die jurassische Spielart des Art nouveau, hinter sich und fand zu einer neoklassizistisch inspirierten Haltung, die sich an der deutschen Reformarchitektur der Zeit orientierte.

Die Reiseerfahrungen sollten das spätere Werk unmittelbar beeinflussen: An der Kartause von Ema in Galluzzo studierte er das Verhältnis von Individualität und Kollektivität, in Griechenland inspirierten ihn die weissen stereometrischen Wohnhäuser. Das Interesse am Orient spiegelt sich auch in den Planungen für Algier, die 1931 begannen. Schon 1928 hatte sich der junge Architekt mit Entwürfen für Moskau befasst. In die USA, das Mutterland der Hochhäuser, reiste er indes erst 1935. Der Eindruck, den New York hinterliess, blieb ambivalent – zu dicht beieinander und zu wenig hoch seien die Wolkenkratzer. Seine eigene Hochhausvision hatte Le Corbusier erstmals 1922 auf dem Salon d'Automne mit der Ville Contemporaine de trois millions d'habitants präsentiert – das Diorama wurde für die Ausstellung in Weil rekonstruiert.

«Fünf Punkte»

Der Teil Privacy and Publicity widmet sich den berühmten Wohnhäusern der zwanziger Jahre, so dem Doppelhaus für Albert Jeanneret und den Bankier und Kunstsammler Raoul La Roche (1923) und der Villa Savoye (1928–31). Anlässlich der Stuttgarter Weissenhof-Ausstellung publizierte er die «Fünf Punkte», welche als Postulate den freien Grundriss, das Bandfenster, die freie Fassade, die Erdgeschossstützen sowie den Dachgarten umfassten. Hatte Corbusier zunächst eine Auswahl anonymer Möbel für die Einrichtungen verwendet, so begann er 1928 mit Charlotte Perriand jene Stahlrohrmöbel zu entwickeln, die heute zu den Klassikern des Designs zählen.

Abschliessend thematisieren die Kuratoren die Synthese der Künste, die sie letztlich als Kernidee des Schaffens von Le Corbusier verstehen. Die Kontakte zu Künstlern, etwa zu Picasso oder Léger, befruchteten Le Corbusiers eigene künstlerische Tätigkeit. Neben seiner Malerei wandte er sich nach 1945 auch freiplastischen Arbeiten zu. Parallel zu diesen Plastiken lassen von Moos und Rüegg mit einer eindrucksvollen Sequenz von Originaldokumenten die wichtigsten Bauten und Planungen des späteren Le Corbusier Revue passieren: die Unité d'habitation, die Kapelle von Ronchamp sowie die städtebaulichen Projekte und Bauten für Ahmedabad und Chandigarh. Die Dokumentation des Philips-Pavillons auf der Brüsseler Weltausstellung 1958 beschliesst die Ausstellung: Die zeltartige, mit Betonplatten verkleidete Struktur, die mit der visuellen Komposition «Poème électronique» nach Musik von Edgar Varèse bespielt wurde, steht paradigmatisch für die angestrebte Idee des Gesamtkunstwerks.

[ Bis 10. Februar. Katalog: Le Corbusier. The Art of Architecture. Hrsg. Alexander von Vegesack, Stanislaus von Moos, Arthur Rüegg, Mateo Kries. Vitra-Design-Museum, Weil am Rhein 2007. 398 S., € 79.90. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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