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Prachtroben für die neue Zeit
Der Standard

Moskau erfindet sich gerade neu. Das hat durchaus Tradition, doch derzeit erfolgt der Aufbruch in eine opulente Vergangenheit

20. Oktober 2007 - Ute Woltron
Moskau ist das riesigste Stadtgebilde Europas, und auch im Detail ist alles so riesig hier, dass man meinen möchte, die Architekten und Straßenbauer dieser Prachtmetropole hätten den Häusern und den Boulevards Anabolikaspritzen verpasst und Architektursteroide in den Beton gemischt, um alles ins Unermessliche wachsen zu lassen.

Zwischen diesen gewaltigen Kubaturen und stadträumlichen Weiten verlieren sich die Menschenzwerglein unter riesigen Fellmützen im ersten Blizzard dieses Winters. Am vergangenen Wochenende verwischt der Schnee alle Konturen, und auf den achtspurigen Straßen steht der Verkehr so gut wie still. Aber das ist ganz normal. Bei einem jährlichen Autozuwachs von zehn Prozent ist auch der nirgendwo gigantischer als im neuen, alten Moskau.

Doch was ist hier eigentlich alt und was ist neu? So genau lässt sich das in der 860 Jahre alten Hauptstadt der Russischen Föderation mit ihren zehn Millionen Einwohnern auf den ersten Blick nicht mehr sagen.

Moskaus größte Kirche, beispielsweise, steht auf einer Anhöhe über der Moskwa, und sie ist, wie viele Gebäude der Stadt, keines von beidem. Tatsächlich steht ihre Geschichte exemplarisch für die Transformationen, die Moskaus Bausubstanz immer wieder durchgemacht hat.

1883 wurde hier an dieser Stelle die erste Christi-Erlöser-Kathedrale eingedenk des Sieges Russlands gegen Napoleon Bonaparte eingeweiht. Doch kaum ein halbes Jahrhundert später, 1931, ließ Stalin das Gotteshaus feierlich in die Luft jagen, um an seiner statt einen Tempel für die Sowjetunion zu errichten: Mit gigantischen 415 Metern Höhe hätte der Palast der Sowjets alle Gebäude dieser Welt in den Schatten stellen sollen, doch er gedieh nie über seine Fundamente hinaus. Zu sumpfig der Boden, zu knapp das Geld, zu gewagt die Konstruktion.

Also baute man die Grundfesten bis 1960 kurzerhand zu einem auch winters beheizten Freibad um, dessen wohlig dampfumnebelte Wärme heute jedoch auch nur noch eine Erinnerung ist. Denn wieder 30 Jahre später, in der Morgendämmerung einer abermals neuen Zeit, beschloss man, die alte Kirche auferstehen zu lassen - und hier steht sie nun, weiß und drall wie eine aufgeblasene Hochzeitstorte.

Nur wer genau hinschaut bemerkt, dass das Ding, das da auf alt und historisch tut, neu und die Fassadenelemente zum Teil nicht aus Marmor sondern aus Kunststoff sind. Und weil sich Vergangenheit und Gegenwart in dieser Stadt aufs Prächtigste mischen, steht gleich davor auf einem 60 Meter hohen Schiff in Bronze gegossen und mit kühner Weitblickpositur seit kurzem Peter der Große auf einer Insel im Fluss.

Dass er, der Moskau bekanntermaßen nicht sonderlich mochte, spanische Kleidung des 15. Jahrhunderts trägt, liegt daran, dass die Skulptur ursprünglich Christoph Kolumbus hätte gewidmet sein sollen, dann aber kurzerhand zum Zarendenkmal transformiert wurde. Doch das fällt auch ohne Schneesturm kaum jemandem auf.

Das Denkmal stammt von Surab Zeretli, der auch die künstlerische Oberleitung des Kirchenbaus innehatte - und abgesehen davon ist er ein guter Freund des Moskauer Oberbürgermeisters Juri Michailowitsch Luschkow. Der regiert seit 1992 und macht aus seiner Vorliebe fürs Opulente in der Architektur keinen Hehl. Er befindet sich damit in bester Gesellschaft. Denn der neue Reichtum Moskaus schlägt sich allerorten in gelacktem Prunk nieder, in einer Architektur, die mit großem Aufwand rekonstruiert, was gleich nebenan in Gestalt tatsächlich historischer Gemäuer zermorscht und niederbricht.

Oder gleich abgerissen und ersetzt wird: „Restaurieren durch Demolieren“ nennen das die Moskauer, und auf die Frage nach so etwas wie Denkmalschutz erntet man fröhliches Gelächter. Offensichtlich, so heißt es dann, gebe es Leute, die außerhalb dieser Gesetze stünden, doch Genaueres wolle man dazu lieber nicht öffentlich sagen.

Auf den Straßen, die der Bürgermeister regelmäßig befährt, um seinen Amtstätigkeiten nachzugehen, seien moderne Häuser - oder solche, denen man ihre Jugendlichkeit ansehe - jedenfalls unerwünscht, und die solcherlei glatte Modernismen bewilligenden Beamten hätten dann schon mit Anrufen des unerfreuten Stadtobersten zu rechnen.

Ganz anders verhält es sich natürlich - nur eines von vielen Beispielen - mit der Kasan Kathedrale am Eingang zum Roten Platz. Die steht brandneu quasi zuckerübergossen wieder da, wo ihre Vorgängerin vor über 70 Jahren abgerissen wurde, und kein Mensch erkennt auf den ersten Blick, dass es sich um eine Rekonstruktion handelt. Auch das Portalgebäude zum Roten Platz ist eine prächtig neue Wiederauferstehung seines Vorgängers des 17. Jahrhunderts - und irgendwie ist man spätestens ab jetzt versucht, die unzähligen Fassadenstaubnetze vor den Gerüsten der gerade neu entstehenden Häuser heimlich zu lüften, in der Erwartung, weitere alte Neuigkeiten dahinter zu entdecken.

Gleich vor dem Kreml in der Twerskaja Nummer 3, dem Beginn der teuersten Einkaufsstraße der Metropole, sind die Fassadennetze bereits abmontiert: Vor drei Monaten öffnete dort mit dem Ritz Carlton das teuerste Hotel der Stadt seine historisierenden Pforten. Die Fassade prunkt in geschwungenem Historismus und schaut uralt, nur halt gerade frisch restauriert aus. Drinnen glänzen neben schimmerndem Intarsienmobiliar Marmor und Gold und die Pretiosen der Gästinnen um die Wette, und alles ist so gediegen neureich gefälscht, dass einem das Architekturherz in der Seele erfriert.

Doch da war doch was in der russischen Architekturgeschichte! Da gab es doch ein einziges Mal und nur für einen Augenblick eine Sternstunde der Befreiung von all dem Prunk und Protz, der eben so mächtig und unwahrhaftig wiederkehrt. Will man sich daran überhaupt nicht mehr erinnern?

In den ersten zehn Jahren nach der Revolution bauten junge Architekten mit konstruktivistischer Architektur die Häuser für eine neu gedachte Menschheit. Die Arbeiterclubs und Fabriksgebäude, die Busbahnhöfe und Wohnhäuser dieser russischen Avantgarde waren an Klarheit, Logik und Schlichtheit nicht zu übertreffen - und es liegt ausschließlich an der Abgeschlossenheit der Welt, in der sie entstanden, dass diese wundervollen Häuser, die allesamt gerade den Weg alles Irdischen gehen, im allgemeinen Architekturbewusstsein nicht mindestens so hoch gehandelt werden wie die besten Bauten der „westlichen“ Moderne. Doch die berückende Schönheit dieser Architektur versteht nur, wer verstehen will, wer bereit ist, sich darauf einzulassen - und Gold und Plüsch betören allzu leicht die anderen.

Mit klaren Linien und geraden Schnitten lässt sich nichts verbergen, lässt sich nicht schummeln, bleiben Gestalt und Idee transparent. Das ist gemeint, wenn man von der Ehrlichkeit in der Architektur spricht. Mit Stalins Moskauer Generalplan war damit bereits ab den 30er-Jahren wieder Schluss, weil auch die Stalin-Ära ihre Prunkarchitektur verlangte. Und das ganz neue Moskau zieht wieder ganz alte Kleider an und hüllt sich in die pelzverbrämten Prachtroben seiner Zarenvergangenheit. Nichts auf dieser Welt zeigt die Moden der Macht, der Politik und des Geistes der Zeit deutlicher als die Architektur.

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