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Neue Zürcher Zeitung

Pop-Architektur von Archizoom – eine Ausstellung in Lausanne

31. Oktober 2007 - Roman Hollenstein
Die Architekturgalerie der ETH Lausanne hat sich neu erfunden. Wo bisher bunt gemixte Präsentationen – von romantischer Gartenkunst bis hin zu Bauten trendiger Jungarchitekten – zu sehen waren, sollen künftig in zwei jährlichen Ausstellungen die Wechselwirkungen zwischen Architektur, Konstruktion, Urbanismus und Design thematisiert und mit Vorträgen vertieft werden. Dieses Forum heisst neu Archizoom. Der Name erinnert an eine innovative, aber kurzlebige Architektengruppe in Florenz, der nun auch die Eröffnungsschau gewidmet ist. Zwischen 1966 und 1974 arbeiteten unter der Gruppenbezeichnung Archizoom Associati mehrere junge Florentiner zusammen, welche die Architektur mit revolutionären Ideen und künstlerischen Strategien zu erneuern suchten. Dabei schufen sie – angeregt durch ihr Londoner Vorbild Archigram – marxistisch angehauchte Visionen und gesellschaftskritische Projekte von grosser Suggestivkraft.

Auftakt zur ebenso zeitgeistigen wie baukünstlerisch interessanten Ausstellung machen die von metabolistischen Strukturen und Louis Kahns Betonburgen inspirierten Diplomarbeiten von Andrea Branzi, Gilberto Corretti und Paolo Deganello, die 1966 Archizoom gründeten. Ihre Begeisterung für die Pop-Art lebten die Rebellen vor allem im Design aus und schufen Ikonen wie das wellenförmige Kunststoff-Sofa «Superonda». In den antifunktionalistischen «Dream Beds» von 1967 vermischten sie «afro-tirolischen Kitsch» mit postmodernen Formen und nahmen so Themen von Alchimia und Memphis vorweg.

Obwohl die Mitglieder von Archizoom als Verfechter einer «radikalen Architektur» die Theorie stets höher werteten als die Praxis, hielt sie das nicht davon ab, bourgeoise Bauten wie das von Adolf Loos und der traditionellen Architektur beeinflusste Ferienhaus Benini bei Grosseto oder die terrassenförmig abgetreppte Villa Vivoli in Fiesole zu bauen. Nicht einmal vor klerikalen Aufträgen wie der Kirche San Cristofano in Florenz schreckten die selbsternannten Revoluzzer zurück.

Der von Archizoom im Zusammenhang mit dem Städtebau propagierte «Diskurs in Bildern», der sich bald auf monströse Megastrukturen, bald auf fragmentierte Stadtansichten abstützte, prägt auch die mit rund 130 Zeichnungen und Fotomontagen aufwartende Lausanner Ausstellung. Sie zeigt ausserdem Originalmöbel wie den als Mies-van-der-Rohe-Kritik verstandenen «Pekino»-Sessel oder das «Superonda»-Sofa. Das Modell ihres Flughafenprojekts für Genua von 1970 kündet von städtebaulichen Ambitionen, die im Guckkasten-Objekt «No-Stop City» zum Gesamtkunstwerk stilisiert werden. Eine Vielzahl dekorativer Pläne dokumentieren diese Stadt der Zukunft, für deren Bewohner die Architekten sogar Overalls und Kimonos kreierten. Mit dem von einem informativen Katalog begleiteten Neustart ist der Architekturgalerie ein Coup gelungen. Denn das bisher nur ausschnittweise bekannte Œuvre von Archizoom, das sich auf Rem Koolhaas' «Delirious New York» ebenso auswirkte wie auf Bernard Tschumis Parc de la Villette in Paris, ist mehr als eine Marginalie der Architekturgeschichte – und es gewinnt durch die heutige Retromode in der Architektur neue Aktualität.

[ Bis 30. November in der Architekturgalerie der ETH Lausanne. Katalog: Roberto Gargiani: Archizoom Associati. 1966–1974. De la vague pop à la surface neutre. Electa Mondadori, Mailand 2007. 335 S., Fr. 81.–. ]

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