Artikel

Das Röhren des Jahrhunderts
Der Standard

Oder der explosive Versuch der 60er-Jahre, die Architektur von der Schwerkraft zu befreien.

5. April 2008 - Ute Woltron
Das Jahr 1968, so sagt man, habe in Österreich eine heiße Viertelstunde gedauert. Das mag so gewesen sein, doch auf die Architektur trifft diese Bemerkung nicht zu. In dieser Szene brodelte es schon lange vor dem gern zitierten Stichjahr, und es köchelte auch noch lang danach weiter.

Die Architektur ist eine herrliche Disziplin, weil sich in ihr, von Außenstehenden weitestgehend unbemerkt, die ganze Welt verdichten und neu mischen kann. Die Architektur ist die Lehre von den Menschen, der Technik, der Fantasie, von den Kräften und Gegenkräften, von der Natur und ihren Gesetzen - und die Labore, in denen diese Zutaten von bärtigen und häufig auch mittels halluzinogener Substanzen befeuerten Studenten gerade in den 60er-Jahren experimentell neu vermengt wurden, waren vor allem die Zeichensäle der Technischen Hochschulen.

Da bestimmte Gemische ab einem gewissen Verdichtungsgrad zu explodieren pflegen, kann man, wenn man unbedingt will, auch eine Art hiesigen Höhepunkt des architektonischen 68er-Geschehens festmachen. Dieser wurde im Frühsommer des Jahres 1969 erreicht, als die Wiener Architekturstudentengruppe Zünd-Up ein Entwurfsprogramm für ein fiktives Parkhaus am Karlsplatz zum Anlass nahm, nicht nur die Aufgabenstellung selbst infrage zu stel-len, sondern auch die Benimmregeln des starren universitären TH-Betriebs gewissermaßen in einem grandiosen Getöse demonstrativ zu versenken.

Michael Pühringer, Timo Huber, Hermann Simböck und Bertram Mayer inszenierten damals, um die einschlägige Terminologie zu strapazieren, ihre Entwurfsabgabe als Happening in der Tiefgarage Am Hof in der Wiener Innenstadt. Dort hatten sie eine einigermaßen groteske Maschinerie mit dem Titel „The Great Vienna Auto Expander“ aufgebaut und zur akustischen Untermalung einen Harley-Davidson-Motorradclub um geschlossenen Auftritt bei hochtourig aufheulenden Motoren gebeten.

Als der Professor der Technischen Hochschule, Karl Schwanzer, zur Abnahme der Arbeit in der ungewöhnlichen Lokalität erschien, wurde Gas gegeben, und „Das Röhren des Jahrhunderts“ erfüllte die Tiefgaragenhallen. Schwanzer ließ sich zu einem Motorradtrip durch die Garagenunterwelt überreden - ein Würdenträger im grauen Anzug überließ sich am Sozius einem Wilden auf der Maschin' - Welten, Generationen, Geisteshaltungen wurden gemischt, und die Aktion ging selbstverständlich in die Architekturgeschichte nicht nur dieser erzkonservativen Stadt ein.

Doch die Zünd-Ups waren nicht die ersten Zündler. Auch sie hatten, wie jeder vor und nach ihnen, Wegbereiter. Einer davon war beispielsweise Friedrich Achleitner, und der war schon in den 50er-Jahren höchst aktiv. Er war zum einen der Architekt in der „Wiener Gruppe“, und er brachte zum anderen mit seinen scharfen Kritiken in der Tagespresse eine neue Dimension in die Architekturwahrnehmung der Allgemeinheit - ein Faktor, der überhaupt nicht hoch genug ein- und geschätzt werden kann.

Auch Friedensreich Hundertwasser spielte mit seinem Verschimmelungsmanifest aus dem Jahr 1958 eine wegbereitende Rolle für die späteren „68er“, als er die Fadesse und Fantasielosigkeit der grauen Nachkriegsmoderne anprangerte und den Einzug neuen Lebens in die Häuser einforderte. Doch die Radikalsten unter der Avantgarde waren wahrscheinlich Walter Pichler und Hans Hollein. Sie waren nämlich beide eine Zeitlang auf der damals noch großen, weiten Welt unterwegs gewesen, in Frankreich, in den USA, hatten andere Luft durch ihre Nüstern strömen lassen und brachten einen ungewöhnlich frischen Wind mit nach Hause in die miefige heimische Szene.

Sie schrieben zum Beispiel schon ein paar Jahre vor 1968 herrlich provokante Manifeste. Hollein ließ die Welt etwa wissen: „Architektur ist eine Angelegenheit der Eliten (...), ist elementar, sinnlich, primitiv, schrecklich, gewaltig, herrschend. (...) Architektur ist zwecklos.“ Walter Pichler tönte ebenso streitbar: „Architektur ist Verkörperung der Macht und Sehnsüchte weniger Menschen. Sie ist eine brutale Sache, die sich der Kunst schon lange nicht mehr bedient. (...) Die Stadt der Elite wird getragen von den Behausungen der Massen.“ Heute, über 40 Jahre später, haben sie immer noch völlig recht.

Einer, der die Hexenbottiche der Architekturlabore der 60er-Jahre stets mit neuen Ingredienzien versorgte, war selbstverständlich Günther Feuerstein. Am Institut von Karl Schwanzer hielt er ab 1963 Seminare, die sich lieber mit Experiment und Zukunft auseinandersetzten als mit der ewigen Betrachtung der Geschichte und der baukünstlerischen Vergangenheit.

Unter seiner Pflege entstanden in der Folge Gruppen wie Haus-Rucker-Co, Zünd-Up, Missing-Link und Coop Himmelb(l)au. Er vernetzte auch die Wiener mit der Grazer Szene, wo beispielsweise Raimund Abraham seine verdichteten Stadtvisionen virtuos zu Papier brachte.

Feuersteins Saat ist ganz gut aufgegangen. Eine ganze Reihe der heute erfolgreichsten Architekten der Nation saß damals in seinen Seminaren, und gerade Feuersteins Drang, alle möglichen Grenzen zu sprengen und den Blick auch über Kontinente und Meere in andere Weltgegenden zu lenken, hat sie beflügelt.

Um die Bedeutung zu verstehen muss man sich bewusst machen, dass es in dieser Zeit noch keinen internationalen Architekturmagazinmarkt gab und das Fernsehen gerade erst seine ersten Schwarz-Weiß-Flimmerer tat. Jeder, der sich heute an diese Zeit zurückerinnert, erzählt, wie unerhört aufregend und köstlich es war, in den von einzelnen Reisenden importierten Architekturheften zu blättern und die neuesten Arbeiten der fernen Kollegenschaft zu studieren. Diese Hefte gingen von Studentenhand zu Studentenhand und wurden regelmäßig in institutionalisierten Kaffeehausrunden heiß debattiert.

Apropos internationale Kollegenschaft: In Illinois saß zum Beispiel Buckminster Fuller ab 1968, wie auch Feuerstein in Wien, mit seinen Studenten in der freien Natur und ließ sie dort Kuppelkonstrukte und pneumatische Gebilde eigenhändig errichten. Die Wiener Studenten betrachteten sicherlich auch irgendwann die Abbildungen seiner geodätischen Kuppeln, wie etwa jene des US-Pavillons für die Expo '67 in Montreal. Wahrscheinlich diskutierten sie auch über die großartigen Villen des kalifornischen Einzelgängers John Lautner und über die bunten Kunststoffwelten des dänischen Ausnahmedesigners Verner Panton. Sie sahen sich die Entwürfe der Londoner Archigram an und nickten wahrscheinlich zustimmend ein paar Jahre später, als Richard Rogers und Renzo Piano mit dem Centre Pompidou quasi ein Post-68er-Architekturmanifest in den strengen Raster von Paris setzten. Mit demonstrativ sichtbaren Versorgungssträngen und mächtig betontem Demokratiegehabe.

Andere Druckverhältnisse

Was ist von dieser 68er-Architektengeneration geblieben? Alles. Weil im Kosmos nichts verlorengeht. Die Ideen wurden weitergesponnen, alles hat sich ein bisschen entfernt, verdünnt, ist auseinandergedriftet.

Wenn man die Herren Michael Pühringer, Timo Huber und Hermann Simböck auf einer Archivaufnahme betrachtet, wie sie im Sommer des Jahres 1969 gerade „The Great Vienna Auto Expander“ über den Stubenring Richtung Tiefgarage schieben, schauen sie genauso aus wie Architekturstudenten der 80er, der 90er oder von heute. Architekturstudenten sind meistens erkennbar, man kann gar nicht genau sagen, woran das liegt, aber es ist so. Die Druckverhältnisse in den Zeichensälen, die sind jedoch ganz andere geworden. Die Älteren werfen den Jüngeren mitunter Verrat an Idealen vor, sagen, der Nachwuchs würde jetzt die Früchte jener Äcker ernten, die sie damals erst urbar gemacht hätten. Das ist jedoch ein unfairer Vorwurf, dem man jedem machen könnte, und der kein Gemisch je so verdichten wird, dass es wieder einmal zur kreativen Explosion kommt.

teilen auf

Für den Beitrag verantwortlich: Der Standard

Ansprechpartner:in für diese Seite: nextroomoffice[at]nextroom.at

Tools: