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Die Grammatik des Bauens
Der Standard

Das Architekturzentrum Wien überrascht mit einer kleinen, gewagten Ausstellung, die, wie jede wirklich gute Schau, dem Betrachter Schwerarbeit abverlangt. Was ist Architektur? So lautet die Frage, die letztlich jeder nur für sich selbst beantworten kann.

20. Oktober 2001 - Ute Woltron
Architektur sei von Erzählungen durchdrungen, sagt Mark Rakatansky, Architekturprofessor an der Columbia University: „Alle ArchitektInnen, alle Gebäude erzählen Geschichten - wenn auch mehr oder weniger bewusst.“

Diese Geschichten einzufangen, womöglich sogar zu verbalisieren, ist eine schwierige, reizvolle Aufgabe, und irgendwann erreicht derjenige, der es versucht, einen Punkt, an dem sich ein paar wichtige Fragen stellen, nämlich: Was ist Architektur überhaupt? Was verbirgt sich eigentlich hinter diesem akademischen, nachgerade langweiligen und zumeist ebenso langweilig-akademisch abgehandelten Begriff? Welche bunteren, lebendigeren Fabeln können Häuser spinnen als die ewigen Abhandlungen über Raumvalenzen und Detailakrobatik? Welche Parabeln können sie weben, wie tun sie es, und - was haben sie uns alle miteinander eigentlich zu sagen?

Das neue alte Architekturzentrum Wien eröffnet seine frisch herausgeputzten Räumlichkeiten im Museumsquartier mit einer Ausstellung zu diesem Thema. Die kleine, gehaltvolle Schau (zu sehen bis März) ist eine erfreuliche und gewissermaßen ruppige Überraschung in der ansonsten so glatt bis platt gehaltenen Architekturpräsentationswelt. Denn vor allem hinter diese Glanzbilderkulissenästhetik wollte man lugen, so Zentrumschef und Dauerwirbelwind Dietmar Steiner: „Die Mediatisierung von Architektur liegt wie eine wasserdichte Folie über den Objekten. Der Markt verlangt nach Sensationen und fragt nicht mehr nach tatsächlichen Qualitäten. Qualitäten der Architektur wollten wir deshalb im und am Unspektakulären bewusst machen.“

Steiner hat der Ausstellung mit der Unterzeile what is architecture? den Titel Sturm der Ruhe verpasst, und während er ihm einfiel, war er eingedenk der Verwirrung, die damit gestiftet würde, mit Sicherheit von diebischem Vergnügen erfüllt.

Die Ausstellung ist Arbeit. Sie erfordert ein stationenweises Durchkämpfen und belohnt dafür mit der Erkenntnis, dass man selbst der Chef ist. Jeder darf, wie Harry Haller im magischen Theater, selbst den Weg zu seiner Architekturauffassung gehen, und das funktioniert am besten, wenn man das Hirn frei und die Seele voll macht. Entsprechendes Füllmaterial ist hier reichlich vorhanden, es steht bereit in Form von Videosequenzen, Büchern, Fotografien, beglückend wenig Planzeichnung, guten Texten, Skizzen, Artefakten. Alles wird nicht zuletzt in eine angenehme Fassung gebracht von der Ausstellungsarchitektur von Eichinger oder Knechtl, die allerorten warmes Orange walten ließen - an den Wänden der neun Kojen, am Boden, an der Decke, an den unwabbelig bequemen Schaumstoffsitzgelegenheiten.

Was ist also Architektur, und welche Geschichten werden erzählt? Ist sie zum Beispiel die hier via Fotogalerie zu besichtigende, durchdesignte Klamottenverkaufsmaschine für Calvin Klein in New York? Ist sie das reduzierte, preiswert gehaltene Einfamilienhaus in Frankreich von Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal? Ist sie das karge, raue, vom Künstler Gerhard Merz entworfene Lagerhaus in Deutschland? Und was machen eigentlich Abbildungen alter Bauernhäuser in der Ausstellung, was haben Videotapes von mexikanischen Steppenlandschaften hier zu suchen, und wozu liegen Tannenbretter fein säuberlich aufgestapelt hier herum?

Die Antwort darauf muss, wie gesagt, jeder selbst finden, und aus den vielen möglichen Zugängen sei an dieser Stelle nur einer herausgepickt. Ein kleiner, fein gemachter Katalog ist nicht Zusammenfassung, sondern Teil der Ausstellung. Er kommt fast ohne Fotos aus und besteht hauptsächlich aus Texten verschiedenster kluger AutorInnen, die kammartig ineinander verwoben sind (hundert von hundert möglichen Punkten gehen an das Layout). Ein Beitrag stammt vom Architekturtheoretiker Mark Wigley und widmet sich der „Architektur der Atmosphäre“. Über dieses Nichtgreifbare der Architektur zu schreiben, stellt in einer Szene cooler Kritikerrationalisten durchaus ein Wagnis dar.

Wigley fragt sich also unbefangen: "Wie wird Atmosphäre konstruiert? Atmosphäre beginnt offenbar genau dort, wo die Konstruktion endet. Sie umgibt ein Gebäude, haftet seiner Materie an. Tatsächlich scheint sie dem Objekt zu entströmen. Das Wort „Atmosphäre“ wurde ursprünglich zur Bezeichnung der Gashülle benutzt, von der Himmelskörper umgeben sind, und man glaubte, dass sie dem Planeten entstamme und ein Teil von ihm sei. Ganz ähnlich scheint die Atmosphäre eines Bauwerks durch dessen physische Form erzeugt zu werden. Sie ist gewissermaßen eine sinnlich wahrnehmbare Emission von Schall, Licht, Wärme, Geruch und Feuchtigkeit; ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte, die von einem stationären Objekt erzeugt werden."

Ein wirbelndes Klima nicht greifbarer Effekte also, das dem darinnen Befindlichen auf seine Weise etwas zu sagen hat: Das erklärt auch die Anwesenheit des Weißtannenbretterstapels in der Ausstellung, denn wenn man die Nase energisch zwischen die Hölzer steckt und die dort beheimatete Atmosphäre tief inhaliert, befindet man sich augenblicks in einem Raum des Geruchs. Nicht nur Oberfläche, sondern ein ganzes Planetarium verschiedener Atmosphären umhüllt auch den mächtigen grünschwarzen Betonmusterstein für das Kunstmuseum Liechtenstein von „Morger, Delego, Kerez Architekten“. Der Stein erzählt, wenn man so will, seinem Betrachter die verschiedensten Geschichten des Poliertwerdens, Fräsens, Angebohrtwerdens und seine Reaktionen darauf.

Adolf Loos hat, auf seine trocken-kantige Art, bereits im Jahr 1910 das Atmosphärische einer Architektur beschrieben: „Wenn wir im walde einen hügel finden, sechs schuh lang und drei schuh breit, mit der schaufel pyramidenförmig aufgerichtet, dann werden wir ernst, und es sagt etwas in uns: Hier liegt jemand begraben. Das ist architektur.“

Auch der Architekt Raimund Abraham und der Fotograf Josef Dapra haben seinerzeit in den 60er-Jahren eine ganz eigene Architekturatmosphäre eingefangen, indem sie gemeinsam Architekturen ohne Architekten im Alpenraum Italiens, Österreich und der Schweiz gesucht, fotografisch festgehalten und ohne viel Herumkommentieren zu einem Buch gefasst haben. Der Band „Elementare Architektur“ war lang vergriffen. Einige der - atemberaubenden - Fotos sind in der Ausstellung zu sehen, und erfreulicherweise ist auch das Buch in Neuauflage demnächst wieder zu haben.

Raimund Abraham sagt in einem Interview, das die neue Ausgabe ergänzt, zu Dietmar Steiner Folgendes: Es habe ihn „nicht so sehr die Anonymität, das heißt Bauten ohne architektonische Übersetzung, interessiert, sondern die Grammatik des Bauens“. Nun ist es so, dass Architektur viele Sprachen sprechen kann, und die entsprechende jeweils richtige Grammatik zu finden, darauf kommt es wirklich an. Wenn die Sprache und Grammatik zusammenpassen, zusammengehören und stimmen, dann kommen wunderbare Geschichten heraus und die Häuser singen unter der Sonne wie die Tempel, die Goethe beschrieb. Ob Architekten dabei ihre Finger im Spiel haben, oder baumhäuserbauende Kinder, ob noble Shops dabei herauskommen, ob Villen oder reduziert-schöne Lagerhallen, das ist letztlich egal. Denn man kann sich der Angelegenheit auch wie Mies van der Rohe nähern, der meinte: „Architektur beginnt dort, wo zwei Steine sorgfältig übereinandergelegt werden.“


[„Sturm der Ruhe. what is architecture?“
AzW, Museumsquartier, bis 4. Februar 2002,
Info unter www.azw.at

Raimund Abraham, Elementare Architektur, Verlag Anton Pustet, neu herausgegeben vom AzW.]

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