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Der Standard

Die Stadt ist der Raum zwischen Häusern und Mauern - aber wem gehört der? Denen, die ihn erobern.

7. Juni 2008 - Ute Woltron
Der amerikanische Architekt und Künstler Vito Acconci lieferte von all den unzähligen Definitionen, was denn nun der „öffentliche Raum“ sei, eine der treffendsten, wenngleich auch pessimistischsten. Was man in Städten als öffentlichen Raum bezeichne, meinte er, sei von den Behörden geplant: „Was gebaut wurde, ist eine Produktion: ein Spektakel, das das Unternehmen oder den Staat verherrlicht - beziehungsweise beide gleichzeitig. Der Raum ist also nur an die Bevölkerung verliehen, nur geborgt - an Menschen, die als eine organisierte Gesellschaft, als Angehörige des Staates und als potenzielle Konsumenten angesehen werden.“

Tatsächlich - der öffentliche Raum ist, nach „westlicher“ Sichtweise, die große Spielwiese politischer und wirtschaftlicher Kräfte, ein langsam rollendes überdimensionales Billboard, an dem sich die jeweiligen Machtverhältnisse nur allzu genau ablesen lassen: Unternehmensarchitekturen auf entgegenkommend gewidmeten Bauparzellen hier, grelle Markenlogos da, Shoppingmalls dort, Geschäftsarkaden und Überdachungen auf vom Kommerz eroberten Freiflächen, auf denen früher, vor Urzeiten sozusagen, vielleicht einmal die Kinder dem Fetzenlaberl nachgesprintet sind. Dieser Raum zwischen den Häusern wird besetzt, erobert, definiert, und es hängt von der Potenz und der Weitsicht der jeweiligen Stadtplanung ab, wer dieses Match gewinnt - oder ob es im Idealfall ex aequo für Wirtschaft und Bevölkerung ausgeht.

Denn „borgen“ sollte sich Letztere gar nichts müssen - der öffentliche Raum sind wir alle, nicht die von Acconci ins Spiel gebrachte „Behörde“. Woran es in überregulierten Stadtgebilden mangelt, ist höchstens die Erkenntnis dessen.

Zweites Heim

Ein paar Beispiele: Als die spanische Franco-Diktatur im Jahr 1975 endete, war die Rückeroberung des öffentlichen Raumes für die Bevölkerung eine der ersten Maßnahmen, die landauf, landab ganz bewusst gesetzt wurden - von Großstädten ebenso wie von kleinen Gemeinden.

Beth Gali, Architektin in Barcelona, meint dazu: „Man wollte damals den Bürgerinnen und Bürgern zuallererst das zurückgeben, was ihnen lange genommen worden war: Öffentlichkeit. Die offenen Räume der Stadt sollten als eine Art zweites Heim begriffen werden, als Wohnzimmer für alle.“

Die spanischen Freiraum- und Landschaftsplaner, die derzeit wohl besten international, hatten sowohl genug Zeit als auch genug öffentliche Mittel, um dieses anspruchsvolle Feld der Architektur zu einer außergewöhnlichen Kultur zu entwickeln. Und die funktioniert vorzüglich: Kaum ein Platz, ein Freiraum, der nicht rund um die Uhr aktiv belebt ist. Mitten in Barcelona stehen Parcours für Skater zur Verfügung, die Stadtmöblierung ist von feinstem Design, allerorten kann man sich auf Bänken und anderen sinnig gestalteten Sitzgelegenheiten niederlassen, den Freiraum benutzen und genießen, ohne sofort einen Spritzer oder einen Kaffee konsumieren zu müssen.

Wie es ausschaut, wenn nicht die Öffentlichkeit, sondern einzelne Unternehmerinteressen im Vordergrund stehen, lässt sich - ein anderes Extrembeispiel - an Mumbais „Slum“ Dharavi derzeit trefflich ablesen: Was hundert Jahre lang sumpfiges Niemandsland war, wurde von der zuziehenden ländlichen Bevölkerung zu einem regelrechten Stadtteil aufgebaut. Das Land war öffentlich, es musste nicht „erobert“ werden, da die längste Zeit kein anderer daran auch nur das geringste Interesse hatte.

Doch Mumbai wächst, die Immobilienpreise klettern, der Lebensraum von an die 400.000 Menschen wurde unlängst international von einer willfährigen Stadtregierung an die Bestbieter verschachert. Dieser von der Öffentlichkeit mühsam eroberte Raum wird bald von Cricketstadien und Bürotürmen zubetoniert sein, von Shoppingoasen und Lifestylerestaurants. Die Einwohner Dharavis werden abgesiedelt, sprich vertrieben.

Ganz anders agierten die sozialistischen Häuptlinge der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, allen voran Bürgermeister Enrique Peñalosa. Um den wilden Zuzug der Landbevölkerung städtebaulich in den Griff zu bekommen, zogen sie durch jene Areale der voraussichtlichen Besiedelung vorsorglich breite Fahrradwege. Damit strukturierten sie nicht nur die künftige Stadt mit ringförmig angeordneten unbebauten Zonen, sondern schufen auch Freiflächen für die Leute einerseits, für Infrastrukturmaßnahmen andererseits.

Ähnliche Projekte, die die kreativen Kräfte der Zivilbevölkerung aktiv als Motor nutzen, gibt es beispielsweise auch in Mexiko-Stadt.

Der südamerikanische Kollege Gilberto Kassab wiederum hatte als Bürgermeister von São Paulo vor zwei Jahren die, wie er meinte, „optische Verschmutzung“ der brasilianischen Megacity durch Reklametafeln und Leuchtanzeigen dermaßen satt, dass er von 2007 an ein Werbeverbot verhängte. Das sei „einer der seltenen Siege des öffentlichen gegen privates Interesse“, jubelte nicht nur der Schriftsteller Roberto Pompeu de Toledo. Die Bevölkerung, so die Stadtregierung, habe einfach klargemacht, dass sie den Plakat- und Inseratirrsinn nicht mehr länger dulden wolle, und dem habe man nun mit dieser Radikalmaßnahme entsprochen.

Letztes Beispiel: Als der Künstler und Aktivist Edi Rama im Jahr 2000 zum Bürgermeister von Albaniens Hauptstadt Tirana gewählt wurde, war eine seiner ersten Handlungen die Initiative eines Kunstprojekts, mittels dessen er dem grauen Stadtkonstrukt ein buntes, farbenfrohes Fassadenkleid verpasste. Er ließ zudem tausende Parkbäume pflanzen und eine funktionierende Stadtbeleuchtung installieren. Einfache Maßnahmen, die griffen: 2004 wurde er zum „World Mayor“ gewählt, gefolgt übrigens vom Bürgermeister von Mexiko-Stadt, Andrés Manuel López Obrador.

Flucht ins Subversive

Zu guter Letzt eine Kritik, die nicht als ein Jammern über das Elend in Palästen missverstanden werden sollte: Die gewachsenen, funktionierenden und so ungeheuer saturierten europäischen Städte müssen aufpassen, dass sie nicht zu überregulierten Orten der Fadesse und des wohlgesteuerten Konsumdumpfgummitums verkommen. Wo jeder Türgriff Bauordnungen und Reglements unterliegt, regt sich bald gar nichts mehr.

Und wenn der öffentliche Raum zur Shoppingmall verkommt, bleibt nur noch die Flucht ins Subversive. Die subtilsten Duftmarken in den Städten setzen dann illegale Künstler wie der britische Schablonen-Graffiti-Meister Banksy. Oder jener Sprayer, der sich irgendwann vor geraumer Zeit in Wien beglückenderweise an der Ecke Freyung/Renngasse betätigt hat. Dort stand plötzlich über Nacht, klein und zierlich an die Wand gesprüht, ein Zebra auf dem Eckstein des Hauses und betrachtete die Passanten.

Jemand war da gewesen, jemand hatte ein paar Quadratdezimeter Raum erobert - und etwas blieb da. Und die, die vorbeigehen und es bemerken, fangen vielleicht an, darüber nachzudenken, wem die Stadt, ihre Räume, ihre Fassaden wirklich gehören.

Als die spanische Franco-Diktatur endete, war die Rückeroberung des öffentlichen Raumes für die Bevölkerung eine der ersten Maßnahmen, die landauf, landab gesetzt wurden.

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