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Vom Grand Hôtel zum Kulturzentrum
Neue Zürcher Zeitung

Lugano auf dem Weg zu einer neuen Identität

Als Touristenstadt und Bankenplatz ist Lugano längst weltbekannt. Das Kulturleben der Stadt und Region hat bisher jedoch keine vergleichbare Beachtung gefunden. Das soll sich nun ändern.

14. Juli 2008 - Hans Jörg Jans
Mit Standing Ovations hat sich am letzten Konzertabend des «Progetto Martha Argerich» in Lugano das Publikum von seiner Pianistin verabschiedet. Während der siebten Auflage des Festivals (9. bis 28. Juni) war «La Martha» nicht weniger als elfmal aufgetreten, zum fulminanten Abschluss spielte sie das dritte Klavierkonzert von Prokofjew, begleitet vom Orchestra della Svizzera Italiana unter der Leitung von Charles Dutoit. An den Kammermusik-Abenden, die das Rückgrat des «Progetto» bilden, war sie in Werken für Klavier vierhändig oder für zwei Klaviere von Mozart bis Piazzolla zu hören, in Sonaten von Grieg und Schumann zusammen mit Mischa Maisky und Renaud Capuçon. Das späte, aphoristisch konzentrierte Concertino für Klavier und Kammerbesetzung von Janáek geriet unter ihren Händen zum Höhepunkt der Werke von tschechischen Komponisten, denen innerhalb des thematisch ungebundenen Festivals in diesem Jahr besonders viel Raum gegeben wurde.

Eine Stadt im kulturellen Aufschwung

Die aussergewöhnliche Attraktivität des «Progetto Martha Argerich» gründet in der Persönlichkeit und künstlerischen Potenz der Protagonistin. Darauf hat man in Lugano von allem Anfang an gesetzt. Die Rechnung ist glänzend aufgegangen. Als Antwort auf die Mitschnitte und Ausstrahlungen aller Konzerte durch Radio della Svizzera Italiana (Rete Due) – diese waren ein Hauptargument für die Pianistin, sich für Lugano zu entscheiden – kam es nicht nur zu Übertragungen bei vielen anderen europäischen Rundfunkstationen, besonders auch in Italien, sondern die ausgewählten Einspielungen für EMI erzielten den erhofften Absatz und mannigfache Auszeichnungen. Die CD-Boxes «Martha Argerich and friends» widerspiegeln das andere Charakteristikum des «Progetto»: die Zusammenarbeit der Pianistin mit Musikern ihres weitgespannten künstlerischen Umfelds. Am Klavier konnte man bei den abendlichen Rezitals in der Chiesa di S. Rocco beispielsweise erstmals Gila Goldstein und den hierzulande erstaunlicherweise wenig bekannten Alan Weiss kennenlernen, der mit seiner Interpretation der Sinfonie von Charles V. Alkan gleichsam ein pianistisches Erdbeben auslöste.

Wer waren in Lugano die Partner von Martha Argerich und dem ihr in Freundschaft verbundenen Produzenten Jürg «Abdul» Grand, der damals für sie die Kontakte herstellte? Bekanntlich sind es zunächst immer Einzelne, die Projekte auf den Weg ihrer Verwirklichung bringen. Aufseiten des Radios war es Carlo Piccardi, einer der herausragenden Köpfe der Tessiner Intelligenzia, damals Direktor der Rete Due, bis heute Koordinator des «Progetto»; aus dem Unternehmertum der Stadt Alfredo Gysi, promovierter Mathematiker und Musikliebhaber, CEO der Bank BSI, die neben Radio, Stadt und Kanton der private Hauptsponsor des «Progetto» geblieben ist. Mittlerweile hat sich das «Progetto Martha Argerich» als zweiter Teil des Lugano-Festivals im Musikleben nicht nur fest verankert, sondern es wird auch als Modellfall für Planungen und künftige Entwicklungen im kulturellen Bereich der Stadt genommen. Denn Lugano ist im Begriff, sich mit dem Bau eines Kulturzentrums einer der grössten Herausforderungen dieser Jahrzehnte zu stellen.

Die Grossbaustelle

Tatsächlich scheinen die personellen und materiellen Voraussetzungen und überdies der richtige Zeitpunkt gegeben zu sein, um eine solche Aufgabe zu bewältigen. «Die kulturelle Entwicklung von Locarno verläuft linear, in Lugano dagegen exponentiell», sagt Marco Solari im Gespräch über die beiden Tessiner Städte. Es ist höchst beeindruckend, wie sich die Stadt in den letzten drei Jahrzehnten verändert hat. Auf dem Campus trifft man auf eine Universität, die nicht nur in ökonomischen Fächern, die dem Bankenplatz wohl anstehen, internationales Renommee vorzuweisen hat. Vor einem Jahr wurde das Istituto di studi italiani eröffnet, eine Initiative von Marco Baggiolini, dem Gründungsrektor der Universität. Mit Carlo Ossola (Collège de France) an der Spitze wird ein Master-Studium angeboten, das von der italienischen Sprache und Literatur ausgehend auch andere kulturwissenschaftliche Disziplinen mit einschliesst. Die nahe gelegene, eben renovierte Biblioteca Cantonale hat in der Universitätsbibliothek eine fächerorientierte Ergänzung gefunden. Signifikant für den derzeitigen Aufschwung der Stadt sind auch zwei Jubiläen von Institutionen im musikalischen Bereich. Das in den Hochschulrang erhobene Conservatorio della Svizzera Italiana konnte unlängst sein 25-jähriges, die Fonoteca Nazionale Svizzera ihr 20-jähriges Bestehen feiern.

Fährt man vom Süden her dem See entlang in Lugano ein – im Rückspiegel halten sich noch die architektonischen Sünden aus jüngster Vergangenheit –, sieht man sich mit einer Grossbaustelle konfrontiert. Mächtige Werbewände verbergen die beiden erhaltenen Fassaden des Grand Hôtel Palace, eines Wahrzeichens der Stadt aus dem 19. Jahrhundert. Nachdem die Bürgerschaft gegen den Abriss votiert hatte, kaufte die Stadt 1994 das Areal. Seit 2006 befindet sich hier die wohl grösste Baugrube im Tessin. Bereits 2012 soll das Kulturzentrum bezugsbereit sein. Die Überbauung führt öffentliche und private Nutzung zusammen. Die Kosten für die öffentlichen Gebäude sind auf über 180 Millionen Franken veranschlagt. Aus rund 140 Projekteingaben hat man sich für das Konzept des Tessiner Architekten Ivano Gianola entschieden. In dem einen Trakt, der seitlichen «Palace»-Fassade vorgelagert, werden Teile des Museo Cantonale d'Arte und das städtische Museo d'Arte (bisher Museo d'Arte moderna, Villa Malpensa) einen «Modus convivendi» finden, was zunächst einmal als räumliches Zeichen von Kooperation, auch zwischen Stadt und Kanton, zu verstehen ist. Als ein erster überzeugender Beleg für die Zusammenarbeit beider Museen ist die gemein-eidgenössisches Bewusstsein hinterfragende Ausstellung Enigma Helvetia noch bis Mitte August zu besichtigen.

Der «Polo culturale»

Das andere Hauptgebäude ist den darstellenden Künsten zugedacht, Musik, Theater und Tanz. Seine Herzkammer bildet ein wohlproportionierter rechteckiger Saal mit tausend Plätzen, ganz in Holz ausgelegt. Aufgrund seiner Nutzung für mehrere Sparten komplizieren sich die akustischen Fragen, deren Lösung in Zusammenarbeit mit dem Münchner Akustikbüro von Karlheinz Müller angegangen wird. Dank einer raffinierten «Verwandlungs»-Technik wird der Raum über die Aura eines Konzertsaales verfügen. Hauptanliegen des Architekten ist es, das Publikum zunächst einmal von der Strasse weg in eine Zone konzentrierten Schweigens zu geleiten. Als Glücksfall darf man es bezeichnen, dass im Nachhinein für weitere 10 Millionen Franken die Sanierung des sich auf demselben Terrain befindenden ehemaligen Convento Santa Maria degli Angioli bewilligt wurde. Die Klosterzellen dieses denkmalgeschützten Monuments franziskanischer Spiritualität aus dem 15. Jahrhundert werden zu Aufenthaltsräumen für bildende Künstler, Musiker und Darsteller umgestaltet. Auch die Büros der Administration des Polo culturale, wie das inhaltliche Stichwort für das neue Kulturprojekt heisst, werden hier untergebracht.

In dem angestrebten Zusammenführen aller kulturellen Energien der Stadt und der Region wird mit dem Polo ein Projekt lanciert, das «andernorts in dieser Form nicht existiert», so der seit einem halben Jahr als Koordinator wirkende italienische Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Bruno Corà. Mit seiner Berufung zum Leiter des Museo d'Arte wurde er von der städtischen Verantwortlichen für Kultur, Giovanna Masoni Brenni, auch mit der Ausformung eines Konzepts für den Polo beauftragt. Aus Lugano eine Stadt mit kulturell internationaler Ausstrahlung zu machen, ist übrigens auch die Vorgabe von Sindaco Giorgio Giudici. Unter der Decke hingegen brodelt es ausgesprochen kleinstädtisch – nicht anders halt als in London, Zürich oder München.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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