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Perfekte architektonische Inszenierungen
Neue Zürcher Zeitung

Eine Werkretrospektive des grossen Westschweizer Architekten Jean Tschumi in Lausanne

Zu den bekanntesten modernen Bauten der Schweiz zählt der Nestlé-Hauptsitz von Jean Tschumi (1904–1962) in Vevey. Dessen Gesamtwerk wird nun in einer Lausanner Retrospektive präsentiert.

8. Oktober 2008 - Roman Hollenstein
Die Inszenierung ist gekonnt: Unter mächtigen Libanonzedern nähert man sich auf einem Plattenweg einem grossen Gebäude, das sich in einem Gitter von Pfeilern und Balken auflöst. Doch schon rahmt ein weit vorkragender Baldachin den Blick und lenkt ihn durch das Haus hindurch auf die Weite des Genfersees. Sprachlos taucht man ein in all die Schönheit und nimmt den noblen Innenraum mit seiner wabenartigen Decke und der skulpturalen Treppe erst allmählich wahr. Man wähnt sich in einem Musentempel und ist doch in der Empfangshalle eines Versicherungsgebäudes: des 1956 im Lausanner Quartier Les Cèdres eröffneten Hauptsitzes der Mutuelle Vaudoise Accidents. Hier war fraglos ein Könner am Werk, der wie kein Zweiter die Architektur als Gesamtkunstwerk verstand.

Kein Wunder, dass Jean Tschumi, der Schöpfer dieses an Eleganz die Schweizer Architektur der fünfziger Jahre überstrahlenden Meisterwerks, in einem Direktauftrag die neue Verwaltungszentrale von Nestlé in Vevey realisieren konnte. Dieses über Y-förmigem Grundriss errichtete Gebäude nimmt Bezug auf den kurz zuvor vollendeten Unesco-Bau von Marcel Breuer, Pierluigi Nervi und Bernard Zehrfuss in Paris. Doch Tschumi perfektionierte Erscheinungsbild, Konstruktion und Materialität derart, dass das Nestlé-Haus bei seiner Vollendung 1960 einen neuen Höhepunkt jener Corporate Architecture markierte, die 1909 bei Peter Behrens in Berlin ihren Anfang genommen hatte.

Französischer Formensinn

Schon früher, auf der Weltausstellung von 1937 in Paris, hatte Tschumi mit seinem Nestlé-Pavillon eine Firmenikone geschaffen, die dank dem in Vorwegnahme der Pop-Art als Milchpulver-Dose konzipierten Hauptgebäude und dem «Cinéma Guignol» zu einer Attraktion der Schau wurde. Für dieses Erstlingswerk hatte er vier zwischen Tradition und Moderne oszillierende Planvarianten entwickelt. Sie zeugen von Neugier, Beweglichkeit und Vielseitigkeit – Eigenschaften, die ihn von seinen doktrinär-modernen Schweizer Kollegen unterschieden. Anders als diese studierte der 1904 in Genf als Sohn eines Ebenisten geborene und in Lausanne aufgewachsene Tschumi nicht an der ETH in Zürich, sondern an der Bauschule in Biel und dann an der Ecole des Beaux-Arts in Paris. Dort trat er ein ins Atelier von Emmanuel Pontremoli, einem rationalistischen Eklektiker, der einen Baukörper ebenso virtuos in ein altgriechisches wie in ein zeitgenössisches Kostüm hüllen konnte. Hier lernte Tschumi neben dem Entwerfen in Varianten auch das Denken in künstlerischen Zusammenhängen, das er von 1925 an im Atelier von Emile Jacques Ruhlmann perfektionierte. Bei diesem genialen Ensemblier entwarf er nicht nur Art-déco-Möbel: Er lernte auch die Geheimnisse einer perfekten Raumkunst.

Tschumis Pariser Jahre bilden denn auch eine Schlüsselsequenz in der vom renommierten Lausanner Architekturhistoriker und Tschumi-Kenner Jacques Gubler als Hommage an den Meister eingerichteten, ebenso einfachen wie sinnfälligen Ausstellung in der Architekturgalerie der ETH Lausanne (EPFL). Vertieft werden die vielen Bildinformationen durch einen vorbildlichen, Tschumis künstlerisch-architektonischen Kosmos analysierenden Katalog, der erstmals die wahre Grösse des Lausanner Architekten fassbar macht. Gubler ordnet ausgewählte Zeichnungen, Pläne, Fotografien und Möbel aus dem in den Archives de la construction moderne der EPFL aufbewahrten Nachlass zu fünf Themenkreisen. Erlebt man unter dem Stichwort «Atelier Pontremoli» den futuristischen Furor des jungen Studenten, so veranschaulicht die Abteilung «Timbers-postes & échelle grandeur» unterschiedliche Entwurfsformate, aber auch das breite gestalterische Engagement vom Aschenbecher bis zu den städtebaulichen Projekten für Lausanne oder Stockholm. Nach einem Blick auf Tschumis Spiel mit den «Variantes» wendet sich Gubler der «Corporate architecture» zu, die in den 1939 zusammen mit dem Unternehmer und Bildhauer Edouard-Marcel Sandoz gestalteten Direktionsräumen in Basel und dem 1952 vollendeten Neubau für Sandoz France in Orléans ihren Anfang nahm.

Während des Zweiten Weltkriegs kehrte Tschumi nach Lausanne zurück, wo er im Auftrag der Waadtländer Regierung die neue Architekturschule der Universität Lausanne aufbaute. In der Sektion «Ecole d'architecture» wird nicht nur die der Beaux-Arts-Methode verpflichtete, sich radikal vom Zürcher ETH-Unterricht unterscheidende Lehrmethode Tschumis vorgestellt, sondern auch sein 1962 vollendeter Aula-Pavillon, ein expressives Highlight der Betonarchitektur, das in seiner konstruktiven Waghalsigkeit mit Arbeiten von Nervi, Eero Saarinen und Le Corbusier rivalisiert. An der Architekturschule erhielt er 1955 Konkurrenz durch den Le-Corbusier-Anhänger Hans Brechbühler. Doch als praktizierender Architekt kann Tschumi Erfolge feiern. Der international publizierte Nestlé-Hauptsitz begeistert die Architekturkritik und trägt ihm 1960 den damals als «Nobelpreis der Architektur» gehandelten Reynolds Award sowie seine dritte Reise durch die für sein Architekturverständnis wegweisenden USA ein.

Fulminantes Feuerwerk

Mit der Betonskulptur eines Getreidesilos in Renens und dem über dreieckigem Grundriss errichteten Bürohaus André & Cie. in Lausanne führt Tschumi sein Werk zu neuen Höhen. Kurz vor seinem überraschend frühen Tod, der den regelmässig zwischen seinen Büros in Lausanne und Paris pendelnden Architekten am 25. Januar 1962 im Nachtzug bei Vallorbe ereilte, durfte er seinen wohl grössten Triumph erleben: den Sieg im Wettbewerb für das WHO-Gebäude in Genf gegen internationale Stars wie Saarinen, Kenzo Tange oder Arne Jacobsen. Während dieser bedeutende Bau von seinem Kollegen Pierre Bonnard postum realisiert werden konnte, blieb sein zusammen mit dem Ingenieur Alexandre Sarrasin entwickelter Entwurf eines gigantischen Aussichtsturms für die Expo 1964 in Lausanne Makulatur. Dieser zeichenhafte Bau hätte Tschumi wohl zu einem Wegbereiter der spektakulären Architekturen unserer Zeit gemacht.

[ Bis 24. Oktober (täglich ausser sonntags) in der Architekturgalerie der EPFL. Katalog: Jacques Gubler: Jean Tschumi – architecture échelle grandeur. Presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2008. 173 S., Fr. 59.–. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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