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Die Familie Laokoon und ihre Schlangen
Der Standard

Die diversen Würgegriffe, in der sich die Architektur zurzeit befindet, waren zwar nicht das Hauptthema des ersten World Architecture Festivals in Barcelona - aber das wichtigste. Ein Szenebericht.

31. Oktober 2008 - Ute Woltron
Paul Finch ist ein Kämpfer. Der Herausgeber des traditionsreichen britischen Magazins Architectural Review kämpft für das Gute in der Architektur, und jetzt gerade schaut er aus, als ob er die Mutter aller Schlachten hinter sich hätte.

Oder vor sich - so genau weiß man das nicht. Das World Architecture Festival in Barcelonas Kongresszentrum hält in der Halbzeit. Finch hat dieses Get-together von knapp tausend Architekten aus aller Welt vergangene Woche quasi im Alleingang organisiert. Er hat einen bestechenden Cocktail aus Superstars und Developern, aus Architekturtheoretikern und Praktikern gemixt und mit einem Präsentationsstakkato der neuesten Architekturen aus aller Welt gewürzt. Er hat das Recht, jetzt rund um den Bart ein wenig zerzaust zu wirken.

722 Projekte aus 63 Ländern wurden eingesandt und ausgestellt, analysiert, in Kategorien gefasst, juriert. Die besten davon werden gerade von ihren Architektinnen und Architekten vor großem Publikum im Detail vorgestellt. Am Ende soll das World Building of the Year stehen.

Finch moderiert, der Saal ist proppenvoll, die Jury sitzt mit auf dem Podium und stellt Fragen. Oberster Scharfrichter ist der US-Grande Robert A. M. Stern. Er redet nicht viel, aber was er sagt, sitzt wie der Schnitt eines Skalpells. Jurykollege Charles Jencks (USA) hat dagegen den Mund dauernd offen, was dem restlichen Gremium, bestehend aus Cecil Balmond (Arup, London), Richard Burdett (London School of Economics) und Suha Ozkan (Türkei), Zeit gibt, um nachzudenken und die präziseren Fragen zu stellen.

Wer heute zwar anwesend ist, aber nicht dort oben, sondern im blaugetüpfelten Hemd und mit der frischen Aura einer eben geschälten Kastanie in der ersten Reihe sitzt, ist Norman Foster. Der darf nicht, wie geplant, mitjurieren, weil eines seiner Projekte in die Endrunde gekommen ist. Dafür nimmt er wohlgelaunt an den gewissermaßen nebenbei stattfindenden Diskussionsrunden des Festivals teil. Und so spannend die Präsentationen der Architekturprojekte auch sein mögen: Die Highlights des Kongresses sind genau diese Vorträge und Gespräche dazwischen, die sich irgendwann in stets engerem Kreis um eine Frage zu drehen beginnen: Welche Rolle spielen wir Architekten heute eigentlich? Und was tun wir, damit wir als eigenständige Branche weiterbestehen können?

Denn das Schlachtfeld der Architektur hat sich in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren dramatisch verändert. In der globalisierten Schlangengrube findet ein Ringen ohne Ende statt. Zwischen Auftraggeber einerseits und Architekt andererseits - den eigentlich wichtigsten Partnern in diesem Spiel - hat sich eine regelrechte Industrie aus Developern, Investoren, Fonds, diversen Public-Private-Partnerships und What-nots breitgemacht, die das Optimierungspotenzial von Projekten oftmals ausschließlich in Zahlen- und Kostenkolonnen und der gekonnten Reduktion derselben sieht. Sprich: Die Architekten sitzen derzeit ein wenig klamm wie die Kaninchen vor gleich mehreren Anakondas und überlegen, wie diesen Würgegriffen denn beizukommen sei.

„Exakt darum geht es hier“, sagt Paul Finch in einer seiner klitzekleinen wohlverdienten Pausen zum Standard: „Dieses Festival soll aufzeigen, dass die Architekten in diesem Spiel nicht Zuschauer, sondern aktive Mitspieler sind, und zwar als eine eigene, ernstzunehmende Branche.“ Und wer zwar das Übel wittert, wie seinerzeit der Trojaner Laokoon die Griechen im hölzernen Pferd, sich aber nur auf mahnende Worte beschränkt, anstatt in Windeseile die eigenen Kräfte zu stärken, der wird auf kurz oder lang erwürgt.

Gerade die Briten und die Amerikaner haben das längst erkannt. Die großen „Architekturfirmen“, wie sie dort heißen, holen sich die besten Finanzjongleure, Projektmanager, Juristen und Techniker aller Sparten ins eigene Team. Damit ein Gleichgewicht der Kräfte herrscht, und damit man auch als Architekt ungestraft das Maul aufreißen und mitreden darf, wenn die Anakondas den strengen Blick aufsetzen. Und - damit Architektur entsteht, die ihren Namen verdient und sich nicht auf das schlichte Übereinandertürmen von Beton und Glasflächen reduziert.

Denn wirklich gute Architektur hat immer irgendeinen weltverbesserischen Ansatz, daran mag rütteln wer mag. Ob sie besseren Lebens- und Arbeitsraum schafft oder ob sie die zwingenden energetischen Probleme unserer Zeit aufgreift - gute Architekten denken eben nicht nur in Zahlenkolonnen, sondern in Menschen und Benutzern, in Arbeitsprozessen und Stadtsystemen, in Umweltthemen und Zukunftsszenarien. Aber das kann, wenn man's richtig anstellt, gut kalkuliert und glaubhaft in die Sprache der Geldmenschen übersetzt, auch ein gutes Geschäft sein.

Es beginnt wieder eine Diskussion, und Charles Jencks bleibt seiner Rolle als Lästermaul treu. „Wenn sogar Architekturfirmen wie SOM, die 50 Jahre lang nichts als hermetische Boxen gemacht haben, plötzlich auf ökologische Nachhaltigkeit setzen, dann sollte uns das was sagen“, wirft er in die Runde. Kollege Suha Ozkan pflichtet ihm bei. Die globale Ikonografie der Architektur würde künftig sehr stark von diesem Thema geprägt sein, nicht zuletzt aus folgendem Grund: „Wir fürchten uns. Alle. Und wenn nicht für uns, so für unsere Kinder und Enkel.“

Doch dass die Architekten einerseits als Weltenzerstörer gehandelt werden, weil sie überall ihre hässlichen Klötze hinsetzen, und andererseits als Weltenretter auftreten sollen, die nun ruck, zuck das Heil in Form energieoptimierter Häuser bringen, mag in dieser Runde keiner angehen lassen. Denn gerade einmal drei bis fünf Prozent aller weltweit gebauten Häuser gehen auf das Konto von Architekten. „Warum“ poltert Jenks, „sollen die dann eigentlich immer für alles verantwortlich sein?“ „Genau“, wirft Norman Foster mit feinem Lächeln ein, „die Richtung muss die Politik angeben, erst dann können die Architekten folgen.“

Foster hat zu diesem Thema viel zu sagen, weil er ist gewissermaßen die Königskobra unter den Planern - eine extrem auratische und elegante noch dazu. Der 72-jährige zum Lord geadelte Arbeitersohn hat sie alle in der Tasche, Investoren genau so wie Politiker und Developer. Foster & Partners produzieren mit mehr als 900 Mitarbeitern erstens einen Honorarumsatz von 190 Millionen Dollar (2007), und zweitens liefert diese präzis getunte Maschinerie weltweit Qualität, die vom Allerfeinsten ist und immer wieder Standards setzt, auch in technologischer Hinsicht. „Doch bleiben wir besser realistisch“, meint der Brite: „Im Vergleich zu den anderen in diesem Gewerbe sind wir Architekten, auch wenn wir Büros mit an die 1000 Mitarbeitern haben, gerade einmal Peanuts.“

Stimmt, sagt Suha Ozkan - und deshalb solle man keineswegs auf die vielen hervorragenden, aber weniger bekannten Kollegen vergessen, die nicht auf der „Payroll der globalen Szene“ stünden und trotz allem vorzügliche Arbeit leisteten. Foster: „Zum Teufel, wir sind uns alle einig - was für eine langweilige Debatte!“

Doch für Abwechslung ist sogleich gesorgt, denn nun muss endlich das World Building of the Year aus den letzten Finalisten herausdestilliert werden. 17 Projekte sind übriggeblieben. Die Jury erstreckt sich über den gesamten letzten Tag. Am Abend gibt es eine große Show im Kongresssaal, mit Fanfaren und Trommelwirbel, mit Multimediascreens und Trophäenüberreichungen in den einzelnen Kategorien. Und den großen Preis bekommt aus diesem, im übrigen unglaublich männerlastigen Pulk das Projekt zweier Frauen: Die Luigi Bocconi Universität in Mailand - geplant, durchgeboxt, gebaut von den Grafton Architects aus Dublin. Die freuen sich, manch anderer, der sich bereits im Finale wähnte, knirscht mit den Zähnen.

Und dann beginnt, wie es sich gehört, ein ordentliches Fest, und alles strömt zu Sekt und Brötchen und Gesprächen. Paul Finch taucht in der Menge unter und ward nicht mehr gesehen. Er kann zufrieden sein, diese Schlacht hat er bravourös geschlagen. Nächstes Jahr soll die zweite Runde des World Architecture Festivals stattfinden. Viele Architekturstudenten waren hier, haben aufmerksam zugehört, haben von den Besten der Branche ein paar elementare Regeln des Spiels erklärt bekommen, in dem sie bald mitmischen wollen. Es gibt viele Ebenen, auf denen es sich lohnt, für gute Architektur zu kämpfen.

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