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Umnutzung alter Bauten
Neue Zürcher Zeitung

Eine Publikation zum Bauen im Bestand

16. März 2000 - Jürgen Tietz
Längst gehört Bauen im Bestand nicht mehr zu den lästigen Pflichten von Architekten, denen es lieber wäre, prestigeträchtige Neubauten zu verwirklichen. Inzwischen sind Restaurierung und Ergänzung historischer Bauten selbst bei renommierten Baukünstlern Teil des Alltagsgeschäfts. Dank einem stetig wachsenden öffentlichen Bewusstsein für Bedeutung und Qualität historischer Gebäude aus unterschiedlichsten Epochen werden heute zahlreiche Bauten erhalten und umgenutzt, die vor zwanzig Jahren noch dem «Fortschritt» geopfert worden wären.

In seinem Buch «Bauen im Bestand» stellt Kenneth Powell eine Auswahl solcher Synthesen aus Alt und Neu vor, die in den letzten 15 Jahren in aller Welt realisiert wurden. Der Bogen reicht vom Turiner Lingotto-Gebäude von Fiat, das Renzo Piano hergerichtet hat, über eine ehemalige Aachener Schirmfabrik, die Eller + Eller in das Ludwig-Forum für internationale Kunst verwandelt haben, bis zum Umbau eines Kutschenhauses in Edinburg zu Wohnzwecken durch Richard Murphy. Vier thematische Schwerpunkte setzt Powell: Wohnen und Arbeiten, Freizeit und Lehre, Museum als Umbau und Blick in die Zukunft als Abschluss des Bandes.

Angesichts der gewachsenen Bedeutung von Umbauprojekten weltweit müsste Powells Auswahl vorgestellter Objekte exemplarisch sein. Problematisch jedoch ist, dass seine Kriterien bei der Beurteilung der Projekte unscharf bleiben. Die Frage nach einem denkmalgerechten Umgang mit der Bausubstanz hätte weitaus differenzierter diskutiert werden können. Die wenigsten Denkmalpfleger sehen sich als «Kreuzritter», wie Powell in seiner Einleitung etwas überspitzt behauptet. Auch seine Feststellung, dass heute nicht mehr die Erhaltung von Architektur das wichtigste Ziel sei, sondern vor allem ihre Transformation, setzt einen falschen Schwerpunkt, denn sie öffnet einer Reduzierung historischer Bausubstanz zur blossen Dekoration Tür und Tor. Historische Architektur kann aber nur dann erfolgreich umgenutzt werden, wenn unter ihrer neuen Funktion die ursprünglichen Schichten des Gebäudes erkennbar bleiben und nicht nur zum Anhängsel von neuer Nutzung und zeitgenössischer Erweiterung degradiert werden.

Qualitätvolles Bauen im Bestand wird durch eine differenzierte Instandsetzung gekennzeichnet, die es in einem zweiten Schritt durch eine eigene, denkmalgerechte Architektur weiterzuentwickeln gilt. Solch anspruchsvollen Kriterien genügen jedoch längst nicht alle Projekte, die Powell vorstellt - vor allem ausserhalb Europas. Regelrecht ärgerlich wird das Buch, wenn Powell behauptet, der Berliner Reichstag sei seit den fünfziger Jahren nur provisorisch hergerichtet worden. Der heute verlorene Wiederaufbau des Reichstages - ein durchaus streitbares Beispiel für das Bauen im Bestand in der Nachkriegszeit - stammte schliesslich aus der Hand Paul Baumgartens, eines der bedeutendsten deutschen Architekten nach 1945.


[ Kenneth Powell: Bauen im Bestand. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999. 256 S., 253 Abb., Fr. 131.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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