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Harmonie und Formvollendung
Neue Zürcher Zeitung

Der Genfer Architekt Jean-Marc Lamunière in einer Lausanner Ausstellung

Mit seinen Hochhäusern und Wohnbauten prägte Jean-Marc Lamunière die Architekturlandschaft der Romandie entscheidend mit. Nun würdigt die ETH Lausanne sein Schaffen mit einer Werkschau.

28. November 2008 - Roman Hollenstein
Die architektonische Kultur der Schweiz lebt von Einflüssen aus allen Himmelsrichtungen. Profitierten die Deutschschweizer früh schon von den internationalen Verflechtungen der ETH, so gestaltete sich der baukünstlerische Werdegang der Romands lange Zeit komplexer. Jean Tschumi, der Mitbegründer der Lausanner Architekturschule, fand seinen Weg zur Moderne über die traditionsverhaftete Pariser Ecole des Beaux-Arts und den modernen Gräzisten Pontremoli. Eine weitere Galionsfigur der Westschweizer Nachkriegsmoderne, der 1925 – eine Generation später – in Rom geborene und in Genf aufgewachsene Jean-Marc Lamunière, studierte seit 1946 Architektur an der Universität Florenz, wo Giovanni Michelucci mit einem humanistischen Rationalismus das faschistische Erbe zu überwinden suchte. In der dortigen Aufbruchstimmung begeisterte sich der Genfer gleichermassen für die konstruktive Logik der Moderne wie für die Proportionen der Renaissance. Lebte sein erstes Haus – die auf Pilotis à la Le Corbusier ruhende Schachtel der Villa Landolt in Onex (1953) – ganz von der ausgewogenen, an Werke der konkreten Kunst erinnernden Bildhaftigkeit der Hauptfassade, so zeugen die rahmenartigen Auskragungen der Villa Jeanneret-Reverdin in Cologny (1956) vom intensiven Studium der rationalistischen Meisterwerke Giuseppe Terragnis in Como.

Streben nach klassischer Perfektion

Schon hinter diesen klar strukturierten Frühwerken spürt man jenes Streben nach dem Klassisch-Perfekten, das auch Mies van der Rohes Crown Hall auf dem IIT-Campus innewohnt. Dieses konstruktiv auf ein filigranes Skelett reduzierte Juwel analysierte Lamunière kurz nach der Fertigstellung auf seiner ersten Amerikareise im Jahre 1957 in Chicago. Unmittelbar nach seiner Rückkehr inspirierte es ihn zu modernen «Tempeln» aus Stahl und Glas: etwa dem heute leider zerstörten Verwaltungsgebäude der Laines du Pingouin. Die von Mies geprägte Phase, in der Lamunières Architektur sich minimalistischen Skulpturen anzunähern scheint, bildet den ersten Höhepunkt der von einer hervorragenden Monografie begleiteten Retrospektive in der Architekturgalerie «Archizoom» der ETH Lausanne.

Die Schau macht deutlich, wie offen Lamunière die Welt der Architektur durchstreifte, wie gierig er Anregungen aufnahm und wie virtuos er daraus Neues zu formen wusste. Im fein proportionierten Turm der Zeitung «24 heures» an der Lausanner Avenue de la Gare gelang es dem jungen Architekten Ende der fünfziger Jahre, die Innovationen des Lever House von SOM mit der Harmonie von Mies van der Rohes Seagram Building zu dem in seiner Formvollendung wohl vornehmsten Hochhaus der Schweizer Wirtschaftswunderzeit zu steigern. Die selbstbewusste Strenge dieses weithin sichtbaren Gebäudes bildet die Antithese zur ebenso diskreten wie heiteren Eleganz von Jean Tschumis transparentem Stadtpalast der Mutuelle Vaudoise Accidents im Lausanner Quartier Les Cèdres.

Die Präsentation der Exponate auf schachbrettartig angeordneten Tischen, die auf die von rechtwinkligen Strassenrastern gefassten Häuserblöcke amerikanischer Grossstädte und damit auch auf Lamunières städtebauliches Engagement hinweisen, ermöglicht es den Besuchern, die Chronologie zu überspringen, um Ungleiches miteinander zu vergleichen. Doch selbst wenn man sich an die Zeitachse hält, glaubt man mitunter vor dem Werk eines neuen Architekten zu stehen. Denn Lamunières Schaffen entwickelt sich nicht evolutionär. Vielmehr ist es von abrupten Richtungswechseln geprägt. Erst wenn sich der Überblick einstellt, erkennt man das alles Vereinende: Es besteht in der Suche nach der klassischen Ausgewogenheit von Material und Form, von Körper und Raum, von Detail und Gesamtheit.

Nach der Beschäftigung mit Mies van der Rohe folgt der Dialog mit Louis Kahn, den Lamunière während seiner Lehrtätigkeit in Philadelphia kennenlernte. So scheint sich etwa die Dachlandschaft des von Le Corbusiers Unité d'habitation angeregten Genfer Wohn- und Geschäftshauses Interunité urplötzlich in ein Kahnsches Volumenspiel stelenartiger Aufsätze zu verwandeln. In dieser noch stark vom Betonbrutalismus geprägten Architektur kündigt sich die Postmoderne an, die dann in der direkt am See bei Genf gelegenen Villa Dussel zu einer Annäherung an Palladio führt – im Aufriss ebenso wie im Plan, welcher eine Auseinandersetzung mit Rudolf Wittkowers palladianischen Villenschemen zeigt. Beim Entwurf des eigenen Atelierhauses in Todi geht Lamunière 1975 noch weiter, überwölbt den Steinbau mit einer an Palladios Basilica in Vicenza gemahnenden Kuppel und bekrönt diese mit einer Laterne, die von Kahn erdacht sein könnte. Das vielschichtige, an Verweisen reiche Haus findet 1980 seine Würdigung in Ausstellung und Katalog der ersten Architekturbiennale von Venedig, die unter dem Titel «La Presenza del Passato» der postmodernen Architektur zum endgültigen Durchbruch verhelfen sollte.

Streng und flexibel

Die Eloquenz der Postmoderne versucht Lamunière im 1984 vollendeten Wohnblock am Quai Gustave-Adore zu disziplinieren, indem er sich zurück auf die Betonarchitektur von Perret besinnt, für den er unmittelbar nach dem Studium in Mülhausen gearbeitet hatte. Anschliessend aber droht sich Lamunière in postmodernen Exerzitien zu verlieren, die – im verdünnten Aufguss der anonymen Investorenarchitektur – bis in die späten neunziger Jahre zweifelhafte Auswirkungen auf die Genfer Architekturentwicklung zeitigen sollten. Lamunières Bauten sind nun fast so bunt wie die kraftvoll gezeichneten Pläne, die mitunter wie Gemälde wirken (und denen in der Ausstellung zu Recht Platz eingeräumt wurde). Den enigmatischen Schlusspunkt der Schau bildet das ätherisch weisse Palmenhaus des botanischen Gartens in Genf, das – ähnlich wie die Casa Carlasc von Antonio Croci in Mendrisio – Palladios Villa Rotonda zum Hexagon uminterpretiert und gleichzeitig Joseph Paxtons Glashausarchitektur in Richtung eines postmodernen Hightechs weiterdenkt. So offenbart denn die Schau, obwohl sie von geradezu puritanischer Strenge ist, das Universum eines Architekten von seltener Statur und Beweglichkeit, den sich die in ihrer Exzentrik seltsam verkrusteten Ikonenbauer von heute durchaus zum Vorbild nehmen könnten.

[ Bis 5. Dezember in der Architekturgalerie Archizoom der ETH Lausanne. – Begleitpublikation: Jean-Marc Lamunière. Regards sur son œuvre. Hrsg. Bruno Marchand. Infolio éditions, Gollion bei Genf 2007. 248 S., Fr. 75.–. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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