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Vernunft und Mystik
Neue Zürcher Zeitung

Antoni Gaudí im Triennale-Palast in Mailand

Der Katalane Antoni Gaudí zählt zu den populärsten Architekten überhaupt. Da aber die meisten seiner Bauten in Barcelona stehen und zudem viele Dokumente im Bürgerkrieg verlorengingen, müssen sich Präsentationen ausserhalb seiner Heimatstadt weitgehend auf Photomaterial beschränken. Gleichwohl preist Mailand eine Gaudí-Schau als «bedeutende Retrospektive» an.

24. März 2000 - Roman Hollenstein
Fast ein Jahrhundert lang wusste Mailand seine Position als Hochburg der italienischen Architektur zu verteidigen. Hier fand das Vokabular von Liberty und Novecento zur Gültigkeit, hier triumphierte der Razionalismo und hier entstanden um 1960 mit der Torre Velasca und dem Pirelli- Hochhaus Europas schönste Wolkenkratzer. Doch kurz nach der Fertigstellung von Aldo Rossis neorationalistischem Wohnblock in Gallaratese setzte der Niedergang ein. Vom Glanz und Elend der Mailänder Baukunst zeugt gegenwärtig eine Ausstellung im jüngst von Gae Aulenti umgebauten Spazio Oberdan an der Porta Venezia. Unter dem Titel «Milano senza confini» präsentiert sie bis zum 25. April die photographische Annäherung von zehn europäischen Künstlern an die Stadt (Katalog: Silvana Editoriale, Milano). Während etwa Fischli und Weiss die pittoreske Sicht vom Dom auf die Turmlandschaft der Innenstadt zelebrieren, beleuchten Gabriele Basilico oder John Davies gnadenlos die neusten architektonischen Verirrungen. Mit diesen kommt in Berührung, wer auf dem Weg zur Gaudí-Ausstellung im Triennale-Palast die Metropolitana an der Haltestelle Cadorna verlässt, um sich nach einigen Treppenstufen unter den vor kurzem auf dem Bahnhofvorplatz errichteten, banal pseudo- postmodernen Glashallen wiederzufinden.


Das Baugenie aus Barcelona

Unweigerlich muss man da an Gaudís Heimatstadt Barcelona denken, die seit den achtziger Jahren mit wegweisenden Platzgestaltungen ihren traditionellen Ruf als internationales Architekturzentrum zu festigen wusste. Während in der lombardischen Metropole unter der Last der Korruption die baukünstlerische Kreativität erlahmte, gilt in Katalonien die Baukunst noch immer als Ausdruck des nationalen Selbstbewusstseins. Sie geniesst daher schon seit Ildefons Cerdàs legendärem Stadterweiterungsplan von 1855 und Lluís Domènech i Montaners Schrift «En busca de una arquitectura nacional» (1878) besondere Aufmerksamkeit. Dank grossbürgerlichen Förderern war es Domènech, Josep Puig i Cadafalch, vor allem aber Antoni Gaudí vergönnt, mit ihrem Modernisme - einer Sonderform des Jugendstils - in Cerdàs urbanistischem Schachbrettraster jene höchst extravaganten Akzente zu setzen, die heute noch den Stolz der Stadt ausmachen. Darüber hinaus begeistern Gaudís geniale Bauphantasien, 1969 zu Nationalmonumenten und 1984 zum Welterbe ernannt, als architectures parlantes Schwärme von verzückten Touristen.

Diesem höchst populären Giganten der Architekturgeschichte widmet jetzt die Mailänder Triennale im Palazzo dell'Arte eine «bedeutende Retrospektive». Doch Gaudí-Ausstellungen sind ausserhalb Barcelonas schwer zu realisieren. Denn die Stadt, in der mit wenigen Ausnahmen alle Bauten des Meisters stehen, trennt sich nur ungern von jenen Zeichnungen und Plänen Gaudís, die den Bürgerkrieg überdauerten. Die von Maria Antonietta Crippa in Zusammenarbeit mit Joan Bassegoda von der Cátedra Gaudí inszenierte Schau stösst in Italien dennoch auf beachtliches Interesse, obwohl sie nur wenig Originalmaterial bietet und auf eine Einbettung von Gaudís Schaffen in den katalanischen, den spanischen und den internationalen Kontext der Zeit verzichtet. Dabei hätte gerade mit einer weitergefassten Optik, zu der auch ein Ausblick auf die Gaudí- Rezeption von Le Corbusier über Eero Saarinen bis Calatrava, Hecker und Imre Makovecz gehören müsste, das Manko ausgeglichen werden können. Statt dessen hält man sich in dieser Schau vorab an die hervorragenden Grossaufnahmen von Marc Llimargas. Die der Begleitpublikation, einem mit wissenschaftlich wenig ergiebigen Texten angereicherten Bildband, entnommenen Photos lenken den Blick auf viele überraschende Details, die man vor den Bauten selbst leicht übersieht.

In sieben Etappen wird Gaudís Œuvre chronologisch aufbereitet. Nach einem den Studentenarbeiten, der noch stark maurisch geprägten Villa El Capricho in Comillas bei Santander und der Finca seines wichtigsten Förderers, des Textilindustriellen Eusebi Güell, gewidmeten Präludium werden frühe Meisterwerke wie der an Viollet-le-Duc und Ruskin, aber auch an Barcelonas mittelalterlichem Barri Gòtic inspirierte Palau Güell vorgestellt. Anschliessend veranschaulichen die an einen Riesensaurier erinnernde Strassenfassade der Casa Battló und die organisch durchgestaltete Casa Milà (im Volksmund «La Pedrera», der Steinbruch, genannt), wie der eklektizistische Überschwang nach der Jahrhundertwende einer skulpturalen Gesamtform weicht, deren Komplexität sich nicht auf das Dekorative beschränkt, sondern sich bis auf die Schnitte und die wabenartigen Grundrisse auswirkt.


Geheimnisvolle Kraftlinien

Die als abstrakte Bauplastik inszenierte steinerne Dachlandschaft der «Pedrera», die erst 40 Jahre später in Le Corbusiers Unité d'habitation in Marseille eine kongeniale Antwort erhalten sollte, korrespondiert mit der phantastischen, nach einer Aussöhnung von Natur und Kunst strebenden Gartenwelt des Park Güell (der in der Schau mit vielfältigen Exponaten besonders gut vertreten ist). Das grottenhafte Innenleben dieses Stadtpalasts hingegen wuchert weiter in der Krypta der unvollendeten Kirche von Santa Coloma de Cervelló. Wie kein anderes Werk des Katalanen veranschaulicht die empirisch aus einem Schnurmodell abgeleitete Baustatik dieses völlig aus den Fugen geratenen Gebäudes das Bemühen des Architekten, Konstruktion und Dekoration, Vernunft und Mystik - kurz: lateinische Rationalität und nordische Expressivität zu vereinen.

In jenen Jahren brütete Gaudí auch über dem aussergewöhnlichen Entwurf für einen Hotelturm in New York (1914), in dem er die konstruktiven Erkenntnisse von Santa Coloma, aber auch der Sagrada Familia für einen Profanbau nutzbar machte. Nachdem die hochfliegenden Pläne gescheitert waren, widmete sich der immer stärker in religiöse Dimensionen entfliehende Meister ganz dem Bau von Barcelonas neuer Kathedrale, von der bei seinem Tod im Jahre 1926 allerdings erst die vier bizarren Turmlanzen der Ostfassade standen. Seither wird an der «Planungsruine» langsam, aber stetig weitergebaut. Das mag richtig sein aus klerikaler Sicht und auch Gaudís Ideal einer mittelalterlichen Bauhütte entsprechen. Gleichwohl geht so jenes Fragmentarische verloren, das ein Charakteristikum von Gaudís Schaffen war. Dieser scheute sich nicht, arme Materialien wie Bauschutt, zerbrochene Fliesen oder Basaltblöcke mit viel Erfindungsreichtum fast schon in der Art von Installationen einzusetzen. Dennoch blieb sein Genie ohne direkte architektonische Nachwirkung, auch wenn von seinem Werk geheimnisvolle Kraftlinien zum espace fluide der Moderne, nach Ronchamp, ja bis hin zum Dekonstruktivismus zu führen scheinen. Derartige Assoziationen vermag die Mailänder Ausstellung durchaus zu wecken - und darüber hinaus den Wunsch nach einer wirklich gültigen Gesamtschau, die auch neue wissenschaftliche Erkenntnisse brächte. Diese könnte bald schon Wirklichkeit werden, hat Barcelona doch im Hinblick auf den 150. Geburtstag des Meisters im Sommer 2002 bereits einen grossen Ausstellungsreigen angekündigt.


[ Bis zum 30. April im Triennale-Palast (Palazzo dell'Arte). Begleitbuch: Gaudí, l'uomo e l'opera. Fotografie di Marc Llimargas. Hrsg. Joan Bergós i Massó. Vorwort von Maria Antonella Crippa. Jaca Book Editore, Milano 1999. 311 S., Lit. 160 000. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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