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Stadt fährt ab
Spectrum

Die größte „innere“ Stadterweiterung Wiens: das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs. Über den Versuch, Stadt entstehen zu lassen.

22. März 2009 - Christian Kühn
Das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs ist das größte „innere“ Stadterweiterungsgebiet Wiens. Auf der mentalen Landkarte der Stadtbewohner blieb es jedoch über die letzten Jahrzehnte ein weißer Fleck. Wer, vom Zentrum kommend, über die Lasallestraße Richtung Reichsbrücke unterwegs ist, hat zwar ein relativ klares Bild von der urbanen Struktur, die sich rechter Hand ausbreitet: Da liegen die Venediger Au und der Wurstelprater, das Messegelände und irgendwo dahinter das Praterstadion. Aber zur Linken? Am Beginn der Lasallestraße am Praterstern finden sich seit den 1980er-Jahren ein paar breit hingesetzte Bürohäuser, die mit großen Konzernen wie IBM und der Bank Austria assoziiert werden. Richtung Mexikoplatz schließen weitere Büroblöcke an, als deren einzige Besonderheit ein inzwischen pleitegegangenes Kinocenter zu nennen ist. Aber dahinter? Nur Eisenbahnfans und Anrainer hatten eine Vorstellung von diesem Areal, das sich hier mit seinen Gleisanlagen über zwei Kilometer weit in die Tiefe erstreckte.

Geändert hat sich das ansatzweise zu Beginn der 1990er-Jahre, als in der Remise am Nordbahnhof zwei Jahre hintereinander das „Wiener Architekturseminar“ stattfand, geleitet von Boris Podrecca, zuerst gemeinsam mit Albert Wimmer, dann mit Heinz Tesar. Dass international renommierte Architektinnen und Architekten wie David Chipperfield, Betrix/Consolascio oder Juan Navarro Baldeweg von der Wiener Stadtverwaltung eingeladen wurden, sich außerhalb eines Wettbewerbs mit zukünftigen Stadtstrukturen zu befassen, war ein Novum und auch nur eine kurzfristige Begleiterscheinung der Ära des Planungsstadtrats Hannes Swoboda. Begonnen wurden die Workshops noch im Rahmen der Aufbruchsstimmung rund um die für 1995 geplante Wiener EXPO. Als diese 1991 per Volksbefragung zu Fall gebracht worden war – ein erster großer „Erfolg“ des Wiener Rechtspopulismus – war auch die Dynamik hinter dem Projekt Nordbahnhof verschwunden.

Immerhin entschied man sich 1992 in einem Wettbewerb noch für ein städtebauliches Konzept, das die Handschrift von Heinz Tesar und Boris Podrecca trägt. Es sieht einen Blockraster vor, der an den Bauten in der Lasallestraße Maß nimmt und im Zentrum Platz lässt für einen großen, annähernd quadratisch angelegten Park, eine Art Miniaturausgabe des New Yorker Central Park in der zukünftigen hoch verdichteten Struktur. Nach Süden hin wird das Areal durch einen Gewerbestreifen entlang der Schnellbahnlinie abgeschlossen, der diagonal Richtung Praterstern führt. Diese Diagonale hatte bereits Wilhelm Holzbauer im Zuschnitt des IBM angedeutet. Im anschließenden Bank-Austria-Gebäude, dem gelungensten Projekt Holzbauers in Wien, war diese Diagonale sogar als öffentlicher Durchgang durch den Innenhof geplant. Aus Sicherheitsgründen ist davon leider nicht mehr geblieben als ein diagonaler Blick durch ein Metallgitter.

Einen ersten Schritt ins Areal hinein machte die Entwicklung erst wieder im Jahr 2000, als eine nördlich an der Vorgartenstraße gelegene Blockkante mit drei Wohnbauten nach Entwürfen von Coop Himmelb(l)au, Neumann/Steiner und Boris Podrecca bebaut wurde. Die Projekte behandeln die Frage der hohen Dichte auf sehr unterschiedliche Art. Coop Himmelb(l)au wuchten einen Teil des Volumens nach oben, um dafür nach innen einen offeneren Hof gestalten zu können, während Neumann/Steiner über einen kleinen Spiegelwald Licht von oben in die engen Höfe holen. Und Boris Podrecca kaschiert mit seiner oft bewährten, irgendwo zwischen Klassizismus und Modernismus angesiedelten Architektursprache geschickt, dass seine Blockrandbebauung eigentlich ein Hochhaus mit bis zu 15 Geschoßen ist.

Derzeit steht dem Areal der nächste Entwicklungsschub bevor. Der große Park ist bepflanzt und hat einen Namen bekommen: Er verewigt als Rudolf-Bednar-Park das Andenken an einen Leopoldstädter Bezirksvorsteher der Jahre 1977 bis 1984. Rundum entstehen nun in rascher Folge Wohnbauten, ähnlich dicht und ähnlich heterogen wie die ersten Projekte an der Vorgartenstraße. Bereits fertiggestellt ist die Bike-City, entworfen von Claudia König und Werner Larch, eine speziell auf die Bedürfnisse von Radfahrern abgestimmte Wohnhausanlage. Die Anzahl der KFZ-Stellplätze ist reduziert, dafür gibt es auf den Geschoßebenen eigene Räume für Fahrräder, die nicht wie Abstell-, sondern mit ihren geschoßhohen Glaswänden eher wie Sozialräume wirken. Tatsächlich hoffen die Architekten und der Bauträger Gesiba, dass in diesen Räumen nicht nur Fahrräder, sondern auch die Hausgemeinschaft gepflegt wird.

Die Wohnungen sind mehrheitlich als Maisonetten ausgeführt, von einem nördlich zur Vorgartenstraße liegenden Laubengang erschlossen, der sich vor den Wohnungen zu „Parkbuchten“ für die Drahtesel erweitert. Im Schnitt zeigt das Projekt eine sehr effiziente, schon von Le Corbusier bei seinen großen Wohnbauten, den Unités d'Habitation, verwendete Typologie, bei der ein Laubengang nur alle drei Geschoße benötigt wird. Im Unterschied zu den Unités mit ihren dunklen Gängen ist der Gang hier aber seitlich zur Straße hin geöffnet und belichtet. Auch sonst orientiert sich das Projekt an der Architektursprache der klassischen Moderne. Die Grundrisse sind gut geschnitten, die Loggien groß und gut nutzbar. Die Fassaden kombinieren die Farben Dunkelgrau und Weiß mit Lattenrosten aus Holz, wie sie heute en vogue sind.

Einen völlig anderen Weg gehen die Architekten des benachbarten, gerade in Fertigstellung begriffenen Projekts, Anna Popelka und Georg Paduschka, die unter dem Namen PPAG firmieren. Mit den Spielregeln der klassischen Moderne hat ihr Wohnbau dezidiert nichts mehr zu tun. Kein „erhabenes Spiel von platonischen Körpern unter dem Licht“, wie Le Corbusier Architektur einmal definiert hat, sondern ein Bau, der – in den Worten der Architekten – nach „oben und unten abbröselt wie ein altes Keks“. Die große, durchgängig in einem sehr hellen Blau gestrichene Baumasse, die den Rudolf-Bednar-Park an der Nordseite in voller Länge begrenzt, ist aus einer Vielzahl von Raumzellen komponiert, die sich auch an der Fassade durch Vor- und Rücksprünge deutlich abzeichnen. Vorgehängte große Balkone mit rosa Glasbrüstungen prägen hier das Fassadenbild, während nach Norden zur Vorgartenstraße hin ein System von Terrassen entsteht, deren Geländer aus Drahtgewebe ausgeführt sind.

Die Vor- und Rücksprünge sind kein reiner Formalismus, sondern das Produkt kombinatorischer Überlegungen, mit denen PPAG sich seit Jahren systematisch befasst. Auch ihre „Enzis“ im Museumsquartier lassen sich ja zu ganz unterschiedlichen Räumen zusammensetzen, von der Liegenlandschaft bis zur Eishöhle. Im Wohnbau am Bednarpark ist diese Kombinatorik auch im Erschließungssystem zu spüren. Nur im ersten Stock führt ein Gang über die volle Länge des Gebäudes, darüber gibt es eine abschnittsweise Erschließung über Treppenhäuser und Stichgänge, die durch zweigeschoßige Lufträume und Sozialräume aufgelockert sind. Auch wenn alle Stichgänge eher schmal und nur stellenweise natürlich belichtet sind, sind sie doch voneinander unterscheidbar. An wichtigen Punkten finden sich tapetenartige Kunst-am-Bau-Projekte. Auch in diesem Wohnbau sind viele der Wohnungen Maisonetten, wobei die Typenvielfalt im Vergleich zur Bike-City deutlich größer ist.

Ob dieser Wohnbau die Erwartungen einer jüngeren Generation erfüllt, die dezidiert anders wohnen will als ihre Eltern und bereit ist, dafür auch ein paar dunkle Winkel mehr als nötig in Kauf zu nehmen, wird man erst in ein paar Jahren wissen. Und ob hier wirklich Stadt entstanden ist, erst in Jahrzehnten, wenn diese Generation längst in Pension ist und im Rudolf-Bednar-Park die Tauben füttert.

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