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Form follows fiction
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Was bestimmt beim Bauen die Form? Funktion, Goldener Schnitt, Genius loci? Oder doch anything goes? Nichts von allem, meinen die Grazer Architekten Weichlbauer und Ortis. Sie schaffen Neues durch digitales Mixen von Daten und Bauteilen.

14. August 2009 - Karin Tschavgova
Formfindung ist ein komplexer Prozess, der kein universell einsetzbares Rezept kennt. Es gibt unterschiedlichste Ansätze und Methoden und unendlich viele Möglichkeiten zu gestalten. Was dem einen das Einmalige, Besondere des Ortes als Ausgangspunkt jeder Planung, ist dem anderen die Funktion, die den Entwurf bestimmt. Legt der Architekt seiner Aufgabenstellung das Motto „form follows function“ zugrunde, das die Moderne prägte, so wird diese vorwiegend von innen nach außen gelöst, die Baugestalt wird auf den Grundriss aufgebaut. Hingegen entstehen jene Ikonen genannte Bauten eines Gehry, einer Hadid oder anderer im globalen Architekturwanderzirkus wohl meist als fertige Bilder im Kopf, als von persönlichen Vorlieben geprägte Vorstellung eines Objekts, in das die notwendigen Funktionen eingeschrieben werden.

Andere Denkansätze liegen der Postmoderne zugrunde. Ausgehend vom Zerfall gesellschaftlicher Werte und Utopien, entwickelten ihre Vertreter, ohne die Geschichte abzulehnen, eine Theorie des „anything goes“, in der sie reinen Funktionalismus ablehnten und sich hemmungslos einzelner Stilelemente der Vergangenheit bedienten, die sie aus ihrer Zweckgebundenheit lösten. Genau deshalb wird die Architektur der Postmoderne heute fälschlicherweise auf einen Baustil und eine begrenzte Zeitspanne reduziert.

Albert Ortis und Reinhold Weichlbauer bauen zwar nicht postmodern, oder – genauer gesagt – das, was viele eindimensional verengt mit der Postmoderne assoziieren, aber sie teilen die Haltung postmodernen Denkens. Objektive Kriterien, die festlegen, was gut ist und was nicht, gibt es ihrer Meinung nach nicht. Die Harmonielehre des Goldenen Schnitts, den „Genius loci“, Kontextgebundenheit oder das Postulat, wonach nur schön sei, was auch funktionell ist, erklären sie für obsolet. Die beiden Architekten, die seit nunmehr 15 Jahren nördlich von Graz gemeinsam ein Büro führen und in jedem ihrer bislang realisierten Projekte eine radikale Position vertraten, sprechen allen großen klassischen Prinzipien des Entwerfens die Allgemeingültigkeit ab. Andererseits haben sie auch keine Lust, sich dem Postulat von eigenen, nach subjektiven Neigungen erstellten Regelwerken zu unterwerfen, weil sie davon überzeugt sind, dass „die konstante Anwendung von immer gleichen Entwurfsregeln immer gleiche Ergebnisse bedingt, unabhängig von Anforderungen und Zielen“. Nur keine eigene Handschrift, kein persönlicher Stil! Lediglich die stete Änderung von Regeln und Vorgangsweise führe zu neuen Ergebnissen.

Neues, Unbekanntes zu kreieren, um damit tradierte Wahrnehmungsmuster zu irritieren und immer ums Gleiche kreisende Denkschemata aufzubrechen, ist die Absicht. Die Architektur von Weichlbauer und Ortis soll anregend sein für den Geist und dazu verleiten, Klischees, Traditionen und Gewohntes zu hinterfragen. Irritation und Verstörung ist dabei durchaus beabsichtigt. Damit befinden sich die beiden in einer künstlerischen Übereinstimmung mit Marcel Duchamp und seiner sich dem gewohnten Sehen verweigernden Konzept- und Objektkunst.

Den Formfindungsprozess steuern die beiden mit Regeln, die sie als einzig objektiv bewerten. Sie arbeiten am Computer mit algorithmischen Codes, mit komplexen Programmabläufen, die vorhandene digitale Datensätze mit willkürlich gewählten Parametern mischen, sie vervielfältigen und überlagern und ordnen in mehreren Schritten neu. Als Datensätze können vorhandene Bauteile oder Elemente aus früheren Projekten oder auch Baugrenzlinien Verwendung finden, als Zahlenwerte zur gründlichen Durchmischung dienen physikalische Kennzahlen, Testergebnisse für Waschpulver oder auch mal der eigene Cholesterinwert. Das dabei entstehende zwei- oder dreidimensionale Ergebnis, ein Entwurf, der bis dahin einen hohen Abstraktionsgrad hat, weil die Regeln die Form bestimmt haben, wird erst ab diesem Zeitpunkt individuell interpretiert. Die Ausgangsposition ist vom persönlichen Empfinden, aber auch noch vom Ort und von den funktionellen Anforderungen losgelöst.

Nun wird gezoomt, gestaucht, weggenommen, positioniert. Diese selektive Manipulation, um in einem Näherungsverfahren einen realisierbaren Entwurf zu entwickeln, ist nicht zu vergleichen mit anderen Methoden des Gestaltens, weil das zufällige Produkt des maschinengesteuerten Prozesses Elemente enthält, die ihrer ursprünglichen Bedeutung und Funktion entrissen wurden und im neuen Gestaltganzen akzeptiert werden müssen. Sie bilden eine der Herausforderungen dieser Methode.

Am Bauernhaus im kleinen Weiler Laufnitzdorf nahe Frohnleiten sind die auffälligsten dieser Elemente die Stiegen, die sich als zufällig verteiltes Mixgut an allen Ecken und Enden des Entwurfs festgesetzt hatten. Die Architekten funktionieren sie ohne Skrupel um, machen sie zu Stützen, zum Sichtschutz gegen das Nachbarhaus und zur Aufstiegshilfe für den Rauchfangkehrer. Das hat durchaus Witz und fordert dem Betrachter, ebenso wie die Fensterelemente, die als Geländer vor die Eckverglasungen montiert wurden, einen wachen Blick ab. Alles funktioniert, aber nichts ist, was es scheint, bemerkt Otto Kapfinger treffend in der Beschreibung des Gratkorner Wohnbaus von Weichlbauer und Ortis. Das gilt auch für die GKK-Filiale in Leoben, wo sich der Pavillon in Einzelelemente aufzulösen scheint, die am Vorplatz abgestellt wurden. Wer bereit ist, das Ergebnis dieses digitalen Spiels mit seinen bis ins Surreale gehenden Effekten unvoreingenommen auf sich wirken zu lassen, kann entdecken, dass die Verfremdungen gar atmosphärische Wirkkraft, ja, Poesie entwickeln. Dass das Bauernhaus aus einigen Blickwinkeln im üppigen Grün der umgebenden Wälder und Wiesen aufzugehen scheint, war nicht intendiert, als sich die Architekten für einen sechs Zentimeter langen Kunstrasen als Fassadenmaterial entschieden. Was sie wollten, war eine Fassade, die sich weich anfühlt, die man streicheln kann – aber jede Interpretation ist willkommen.

Die Bauherren, Bauern mit drei Kindern, sind schnell in das Haus hineingewachsen. Ungewöhnlich schien anfangs der Kontrast zur Enge des alten Hauses mit den kleinen Fenstern. Das neue Haus ist hell und offen. Den Architekten ist gelungen, die funktionellen Anforderungen klar und fließend in ihr Konzept einzufügen. Die ungewöhnlichenAttribute werden gemocht, weil sie Fantasie und Nutzungsvielfalt anregen. Die theoretischen Grundsätze, die zur Formfindung ihres Zuhauses führten, kümmern die Bäuerin wenig. Ihr Verständnis für das Haus ist in der Bereitschaft zu vorurteilsfreiem Denken begründet. Das manifestiert sich auch dann,wenn auf das Lamento eines Ortsbildschützers, der meint, dass das ja gar kein Bauernhaus sei, die lapidare Antwort folgt: „Was ist ein Bauernhaus? Ein Haus, in dem die Bauern wohnen – und wir wohnen hier.“

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