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Raumgefasster Zeitwille
Der Standard

Ludwig Mies van der Rohe ist omnipräsent: in Ausstellungen, Büchern und in den Arbeiten seiner Nachfolger

27. Oktober 2001 - Ute Woltron
Der Architekt Ludwig Mies van der Rohe (1886 bis 1969) war 83 Jahre alt, als er sich zum Sterben legte. Er wusste, dass er Krebs und nicht mehr lange zu leben hatte, und beschloss, seiner Tochter Georgia sein architektonisches Vermächtnis zu diktieren. An einem Sommertag des Jahres 1968 machte er sich in seiner Chicagoer Wohnung zurecht, band die unvermeidliche Krawatte um, ließ sich den ebenfalls unvermeidlichen Martini zu fünf Teilen mit Gin mixen, entzündete eine Havanna-Zigarre und sprach über mehrere Stunden die wichtigsten Stationen seines Architektenlebens in die Kamera.

Zu guter Letzt, als alles gesagt schien, bat er die töchterliche Regisseuse, das Gerät doch noch einmal für ein letztes Statement aufzudrehen, um Folgendes festzuhalten: „In meinem langen Leben habe ich immer danach gesucht, worum es sich eigentlich dreht in der Baukunst. Und ich bin mehr und mehr zu der Überzeugung gekommen, dass die Baukunst unsere Zivilisation ausdrücken soll - in ihren wesentlichen Teilen, nicht in den nebensächlichen Wünschen. Das Essentielle sollte herausgearbeitet werden, und das sehe ich als die eigentliche Baukunst an. Es war ein langer Prozess, und alles, was ich gemacht habe, hat sich darum gedreht, das zu klären, Schritt für Schritt. Man kann nicht alle Montagmorgen eine neue Baukunst erfinden. Das ist etwas naiv. Baukunst war immer eine ganz ernste Sache, man hat die Epochen danach benannt. Und so wird es bleiben.“

Mies selbst hat eine dieser Epochen maßgeblich mitgeprägt, er hat sozusagen das Wesentliche seiner Zeit herausgearbeitet. Ohne die gewagten, seinerzeit hochexperimentellen Konstruktionen des Steinmetzsohnes aus Aachen, ohne seine auch heute noch aktuellen Abhandlungen über das Wesen der Architektur wäre die Epoche der Moderne eine andere gewesen. Klassiker wie sein Barcelona-Pavillon, seine Wohnhäuser in Brünn und Illinois, seine Stahlskeletthochhäuser samt vorgehängten Glasfassaden sprechen für sich. So richtig still war es um Mies auch nach seinem Tod nie, doch dieser Tage scheint der Mann mit der Zigarre ein regelrechtes Revival zu erleben. Ausstellungen in New York und Berlin versuchen, das umfangreiche Werk des Architekten, seinen Werdegang, den vielschichtigen Einfluss, den er auf Zeitgenossen und nachfolgende Generationen ausübte, aufzuarbeiten. Die große Mies-Schau im Whitney Museum of American Art ist zwar schon wieder abgebaut, doch ab 27. Oktober zeigt das Vitra Design Museum in Berlin eine umfangreiche Auswahl von Möbeln des Architekten, und im Dezember übersiedelt die Ausstellung Mies in Berlin vom New Yorker Museum of Modern Art in das Alte Museum Berlin.

Wer nicht vor Ort sein kann beziehungsweise die Whitney-Ausstellung versäumt hat, der darf sich zumindest an fetten Ausstellungskatalogen ergötzen, die in Buchform ab sofort im Handel zu haben sind. Mies in Berlin handelt vorzüglich auf insgesamt 391 Seiten Die Berliner Jahre 1907-1938 ab und ist, ebenso wie der zweite, 791 Seiten lange Wälzer, der Mies van der Rohe in America präsentiert, weniger Bild- als Textarbeit. Ein kleiner Zusatzhappen erschien bereits im heurigen Frühjahr: In der Autobiografie La donna è mobile hat Mies-Tochter Georgia ihr kompliziertes Leben mit dem unsteten Vater abgearbeitet - aus dieser Lebensbeichte stammt auch das eingangs festgehaltene Zitat der Miesschen Lebensabschlussbetrachtung.

Ludwig Mies, der aus Gründen der Extravaganz 1922 auch den Familiennamen seiner Mutter an den väterlichen Namen anhängte, hatte nie Architektur studiert. Die Qualitäten handwerklicher Perfektion sowie die Vorzüge präziser Details bekam er schon als Bub im väterlichen Maurer- und Steinmetzbetrieb mit. Er begann sein Arbeitsleben als Zeichner und Entwerfer von Stuckornamenten und Möbeln, wechselte wenig später in Architekturbüros und gelangte 1908 schließlich zu Peter Behrens, dessen Architektur ihn entscheidend prägte. 1912 gründete er schließlich sein eigenes Architekturbüro in Berlin, konnte sich rasch etablieren, leitete 1926 als Vizepräsident die Werkbundausstellung Weißenhofsiedlung in Stuttgart, wurde 1930 Direktor des Bauhauses in Dessau und Berlin und emigrierte 1938 in die USA. Der Sprung auf den anderen Kontinent erwies sich als fruchtbar, noch im selben Jahr konnte der Aachener ein Architekturbüro in Chicago gründen und begann zugleich als Direktor der Architekturabteilung des Illinois Institute of Technology mit der Neuplanung des gesamten Campus.

Mies war stets der radikalen Klarheit, der straffen Organisation und Ökonomie verpflichtet, seine Materialien waren der Beton, der Stahl, das Glas. Bereits im Mai 1923 hatte er schriftlich festgehalten: „Eisenbetonbauten sind ihrem Wesen nach Skelettbauten. Keine Teigwaren noch Panzertürme. Bei tragender Binderkonstruktion eine nichttragende Wand. Also Haut- und Knochenbauten. (...) Jede ästhetische Spekulation, jede Doktrin und jeden Formalismus lehnen wir ab. Baukunst ist raumgefasster Zeitwille. Lebendig. Wechselnd. Neu.“ Die öffentliche Zurschaustellung dieses raumgefassten Zeitwillens war dem Architekten schon zu Lebzeiten ein dringliches Anliegen. Mies baute nicht nur, er stellte auch heftig und immer wieder aus. Sein Stammlokal war dabei das New Yorker Museum of Modern Art, wo er 1932 in Philipp Johnsons legendärer Schau The International Style präsent war und wo er 1942 seine erste Einzelausstellung beging.

Heute, so schreibt Terence Riley, setze man sich „auf vielfältige, ganz neue, kreative Weise mit dem Werk Mies van der Rohes auseinander“. Sein Einfluss auf die zeitgenössische Architektur sei nach wie vor enorm: „Die schöpferische Neubeschäftigung mit Mies' Transparenzstudien und mit Fragen zur Architektur in ihrer Beziehung zu Natur, Technik sowie Bewusstsein und Bewusstheit des Menschen spiegelt sich in den Bauten zweier Generationen von Architekten, die sich seit 1986 international einen Namen gemacht haben - von Herzog & de Meurons Weingut in Napa Valley über Rem Koolhaas' Maison à Bordeaux bis zu Jesse Reiser und Nanako Umemoto. Diese und zahlreiche weitere Beispiele haben uns davon überzeugt, dass die erneute Beschäftigung mit Mies' Frühwerk genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt.“

Dieses Raffinieren von Älterem mit Jüngerem zu einem Neuen ist ganz im Miesschen Sinne. Er hatte einmal gemeint: „Ich fühlte, dass es möglich sein müsse, alte und neue Kräfte in unserer Zivilisation miteinander in Harmonie zu bringen. Jeder meiner Bauten war eine Demonstration dieser Gedanken und ein weiterer Schritt in dem Prozess meines eigenen Suchens nach Klarheit.“


[„Mies in Berlin. Die Berliner Jahre 1907-1938“, herausgegeben von Terence Riley und Barry Bergdoll, Verlag Prestel,
öS 934,-/EURO 75,-
„Mies van der Rohe in America“, herausgegeben von Phyllis Lambert, Verlag Hatje Cantz,
US $ 75
„La donna è mobile. Mein bedingungsloses Leben“ von Georgia van der Rohe, Aufbau-Verlag, öS 360,80/EURO 25,51]

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