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Schatten über dem Festival
Neue Zürcher Zeitung

Locarnos Lust an der architektonischen Verstümmelung

Die beiden magischen Orte des Filmfestivals Locarno sind in Gefahr: Führende Tessiner Architekten schlagen vor, das Freiluftkino von der Piazza Grande auf eine gigantische Plattform im See zu verlegen, und das eng mit der Geschichte des Festivals verwobene «Grand Hôtel» soll abgerissen werden. Hingegen scheinen Geld und architektonisches Engagement für einen zeichenhaften Festivalspalast zu fehlen.

5. August 2003 - Roman Hollenstein
Als Künstler, Vegetarier und Anarchisten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Monte Verità bewohnten und Elisar von Kupffer in Minusio sein mediterranes «Sanktuarium» realisierte, galt das von der Natur verwöhnte Locarnese den Mitteleuropäern als irdisches Paradies. Seither ist die Moderne wie ein Tornado über diese kleine Welt gezogen und hat sie arg zerzaust zurückgelassen. Mitunter scheint es so, als bemühte man sich ganz bewusst, der Gegend am oberen Ende des Lago Maggiore die urbane Schönheit auszutreiben, um der rund 50 000 Einwohner zählenden Agglomeration «metropolitanes» Flair zu verleihen. Das sei - so könnte man argumentieren - Sache der Tessiner. Aber angesichts rückläufiger Touristenzahlen sollten die Locarnesi doch etwas weiterdenken. Zumal die beiden jüngsten Projekte ganz direkt den wichtigsten kulturellen Grossanlass der Region tangieren: das Filmfestival, das von morgen an zum 56. Mal der Ferienstadt Locarno einen Hauch von Glamour verleihen wird.


Schwimmendes Kino im See

Auch heuer wird sich die Piazza Grande in jenen riesigen Kinosaal verwandeln, welcher seit nunmehr 33 Jahren zur Attraktion des Filmfestivals Locarno beiträgt - selbst wenn die berüchtigten Gewitter mitunter lästig werden und Ordnungsliebende sich an Improvisation und Chaos stören mögen. Diese «Ärgernisse» haben nun Luigi Snozzi und Livio Vacchini, Locarnos führende Baukünstler, zusammen mit Eloisa Vacchini und Mauro Vanetti auf die Idee gebracht, ein radikales Projekt auszuarbeiten. Dem zufolge sollen die Freiluftvorführungen von der Piazza auf einen im See schwimmenden Pier verlegt und so der bei Publikumsfilmen herrschende Platzmangel durch die Bereitstellung von 10 000 Sitzgelegenheiten und die Wetterabhängigkeit durch ein Schiebedach behoben werden. Dass mit diesem Vorschlag der Piazza-Zauber einem austauschbaren «Kino am See»-Spektakel geopfert würde, dem man ebenso gut in Zürich oder anderswo frönen kann, ist der touristische Schwachpunkt des Projekts. Schwerer aber wiegt der urbanistische, denn die zukunftsgläubigen Altmeister nehmen keine Rücksicht auf das Weichbild der Stadt. Mit rigorosem Rationalismus führen sie das Raster der Neustadt weiter und projizieren die langgestreckten Giardini Rusca über die Schifflände in den See hinaus. Diesem Schildbürgerstreich müsste nicht nur das städtebaulich wichtige historische Hafengebäude weichen: Um die von den Architekten vorgeschlagene Sichtverbindung zwischen Pier und Piazza herzustellen - müssten zudem die Giardini Rusca verschmälert und umgestaltet (oder vielmehr abgeholzt) werden. Schaden nähme auch die Uferpromenade von Muralto, würde doch der Lago Maggiore zwischen ihr und dem geplanten Pier zum traurigen Ententeich schrumpfen.

Wie verheerend sich dieses grösste permanente Bauwerk der Stadt - das bei einer Breite von 50 Metern gut 250 Meter weit in den See vorstiesse und die Installationen für Kino- und Restaurationsbetrieb sowie Überdachung aufnehmen müsste - auf die Landschaft auswirken würde, lässt sich schon jetzt am Beispiel des neuen Jachthafens vor den Giardini Arp erahnen. - Das Ende Mai publizierte Projekt der «schwimmenden Piazza» wurde denn auch Mitte Juni auf der in Locarno unter dem Titel «Città e Festival» durchgeführten Jahresversammlung des Bundes Schweizer Architekten heftig diskutiert. Marco Solari, der Präsident des Filmfestivals, beanstandete zu Recht, dass die Piazza das Kapital von Locarno sei und niemals durch ein Konstrukt auf dem See ersetzt werden könne.

Wollte man, ausgehend vom Festival, die Stadt wirklich neu denken, so wäre nicht bei der Piazza anzusetzen, die ja - trotz oder gerade wegen ihrer Mängel - so beliebt ist, sondern beim lange schon herbeigesehnten Palazzo del Cinema. Diesen hätte man (ähnlich wie Rafael Moneos dem Festival von San Sebastián dienenden «Kursaal» oder das KKL) als weithin sichtbares architektonisches Zeichen eines neuen Locarno auf dem seit Jahren unbebauten, südlich der Schifflände am See gelegenen Ciseri-Luini-Areal errichten können. Doch statt offensiv in diese Richtung zu planen, wurde zugewartet: mit dem Ergebnis, dass nun ein Investor aus Melide auf dem ideal gelegenen Bauplatz zwei siebengeschossige Wohn- und Geschäftshäuser errichten wird - Bauten, die wohl wie das meiste, was hier jüngst realisiert wurde, kaum mehr als vorstädtisch anmutende Banalitäten darstellen werden.


Zerstörung eines Mythos?

Wenn nun die Piazza für die Tausende von Filmbegeisterten, die allabendlich unter freiem Himmel die Bilder über die 1971 von Vacchini kreierte Riesenleinwand flimmern sehen wollen, mitunter zu eng wird, so kann sie dadurch vielleicht sogar etwas von jener Exklusivität zurückgewinnen, die einst das Festival prägte, als die Wettbewerbsfilme noch im Park des «Grand Hôtel» gezeigt wurden. Dieser nach der Zerstörung der legendären Luxusherberge von Brissago letzte prominent gelegene Hotelpalast der Belle Epoque im Locarnese war der Ort, an welchem das Filmfestival von Locarno 1946 geboren und bis 1970 auch durchgeführt worden war. Seine monumentalen Treppen, seine mehrgeschossige Halle mit dem gigantischen Murano-Leuchter und seine üppig dekorierten Säle sahen Berühmtheiten von Marlene Dietrich über Pasolini bis hin zu den Stars aus Bollywood. Aber Geschichte geschrieben hatte das zwischen 1866 und 1876 nach Plänen von Francesco Galli und Luigi Fontana erbaute Haus schon mit der Konferenz von Locarno im Oktober 1925, als hier die wichtigsten Delegationen logierten. Und seine Kulisse bereichert bis heute das Filmfestival: Auf den Terrassen werden bald Empfänge durchgeführt, bald Interviews gegeben; und spät nachts - wenn die Projektoren verstummt sind - darf man hier bei einem Glas Champagner diskutieren oder flirten.

Heute, nach Jahren des leisen Niedergangs, umweht süsse Melancholie das einst so noble Haus. Deshalb erstaunte es wohl die Locarnesi kaum, als am 5. Juli der «Corriere del Ticino» ganz nüchtern titelte: «Grand Hôtel, demolizione in vista». Die Aussicht, dass dieser bis heute in Tessiner Besitz befindliche Bau, dessen Steine getränkt sind von Mythen und Geschichten, niedergewalzt und durch eine Altersresidenz, ein Luxuswohnhaus oder gar ein Einkaufszentrum ersetzt werden könnte, führte dann aber in der Tessiner Presse doch noch zu einem Sturm der Entrüstung. Während der Luganeser Historiker Francesco Mismirigo den Tessinern die Leviten las, forderte Corrado Kneschaurek, der Präsident der Tessiner Hoteliervereinigung, das Hotel möge nicht nur als architektonisches und gesellschaftliches Zeugnis einer Epoche, sondern auch in seiner Funktion erhalten bleiben. Locarnos Bürgermeister dachte laut über dessen Umbau zum Verwaltungssitz des geplanten Gross-Locarno nach, und andere Stimmen schlugen das vor einem Jahr noch zum neuen Kasino bestimmte Haus als Sitz der Tessiner Hotelfachschule oder als Festivalspalast vor. - Auch wenn es der Kanton verpasst hat, den bedeutenden Bau rechtzeitig unter Denkmalschutz zu stellen, so ist nun doch Bewegung in die Sache gekommen. Aber anders als in Lugano, wo sich weite Bevölkerungskreise erfolgreich gegen den Abriss des ruinösen «Palace», eines der ältesten Hotels der Schweiz, wehrten und gegenwärtig mit einer Petition die Zerstörung der wohl schönsten Villa von Americo Marazzi im einst von ihm als «Garden City» geplanten Montarina-Viertel kämpfen, verharrt Locarno weiterhin in Lethargie. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass dem Filmfestival nicht nur die magischen Orte erhalten bleiben, sondern dass der angedrohte Abbruch des «Grand Hôtel» die Tessiner endlich auch für ihr Patrimonium des 19. und 20. Jahrhunderts sensibilisieren wird. Soll doch als Nächstes in Bellinzona ein stolzer Bau des Späthistorismus fallen: Enea Tallones exzentrischer Palazzo mit dem monumentalen Belvedere im immer stärker von Neubauten bedrängten Villenviertel rund um die Via Nizzola.

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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