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Modellstadt mit Inselgefühl und Uhrturmschatten
Neue Zürcher Zeitung

Graz schenkt sich zum Kulturhauptstadtjahr viel neue Architektur

Die steirische Metropole Graz geniesst den Ruf einer Stadt der Architektur. Im Kulturhauptstadtjahr sind einige neue Projekte zu verzeichnen. Peter Cook und Colin Fournier, Florian Riegler und Roger Riewe oder Vito Acconci wagen - organische wie minimalistische - Brüche im Grazer Kontext. Dieser ist allgemein geprägt vom Dialog einer dekonstruktivistischen Moderne mit dem denkmalgeschützten Altbestand.

28. Juli 2003 - Claudia Schwartz
«Durch und durch eine unerträgliche Stadt, wunderschön», schreibt der Schriftsteller Franz Schuh über Graz. So viel Graz wie heuer war nie. In den Spätnachrichten des österreichischen Fernsehens meldet sich zur Halbzeit von Graz 03 der «überglückliche» Grazer Bürgermeister zu Wort, der das Kulturhauptstadtdasein unbedingt weiterempfehlen kann. Über fünftausend Presseartikel rund um die Welt, so hat man gezählt, berichteten in den letzten Monaten über die steirische Landeshauptstadt. Graz hat keinen Aufwand gescheut, um sich unter anderem mit neuer Architektur im Zentrum und mit künstlerischen Interventionen selbst an den Ankunftsorten wie Flughafen, Bahnhof und Autobahnen herauszuputzen. So viel Kulturhauptstadt war nie.
Hundert Prozent Stadt?

Graz sei «fast weltauffällig» geworden, bemerkte der Intendant Wolfgang Lorenz. Manchem ist das fast schon zu viel, wie sich im Grazer Haus der Architektur (HdA) zeigt, als bei einer Podiumsdiskussion zur Stadtentwicklung ein Besucher mit dem selbst beschrifteten T-Shirt «Graz 2004» akute Erschöpfung zur Halbzeit demonstriert. Da unterscheidet er sich nicht von den vielen anderen Grazern, denen es bei aller Liebe schon vor längerem zu hektisch wurde im Städtchen. Sie zogen ins Einfamilienhaus in die Grazer Umgebung, offiziell «GU» genannt. Wer erst einmal ein Auto mit GU-Schild fährt, setzt sich dem urbanen Gefühl nur noch bei Bedarf aus.

Graz war seit je eine Modellstadt. Jene mit einer glanzvollen Vergangenheit als Habsburger- Residenz, die Friedrich III. mit Stadtburg, Hofkirche und Dom zum Zentrum des Deutschen Reiches ausbaute. Den Prachtbauten des Barock und der Renaissance verdankt sich eines der grössten und berühmtesten intakten Altstadtensembles im deutschsprachigen Raum, dessen denkmalgeschützte verschachtelte Dächerlandschaft schon beim Anflug auf die Stadt ein Gefühl von idyllischem Nachhausekommen vermittelt. Es mag deshalb erstaunen, dass Graz nun ein «Musterbeispiel einer modernen europäischen Stadt» mit den sich daraus ergebenden Problemen sein soll, wie der Grazer Architekt Harald Saiko erklärt. Er hat gemeinsam mit dem Schweizer Ernst Hubeli und dem Berliner Kai Vöckler eine Ausstellung im HdA über die Identität der europäischen Stadt konzipiert. Die Schau «Grazland - 100% Stadt», Schwerpunkt der HdA-Programmreihe «Europe.cc - Changing Cities», illustriert das «mitteleuropäische Phänomen» der Suburbanisierung. Die anhaltende Zersiedelung macht die europäische Stadt mit ihren aus dem Mittelalter geerbten Strukturen zum Auslaufmodell und führt in der Folge zu einer Verstädterung der Agglomeration. Wobei Forschungsmethoden und Entwurfsstrategien, mit denen Stadtentwicklung analysiert und gestaltet werden können, der sich rasant verändernden Wirklichkeit hinterherhinken. Der in der Schau präsentierte Film «Grazland» zeigt ausserhalb des berühmten historischen Grazer Zentrums eine prototypisch disparat ins Umland wuchernde Stadtagglomeration. Wenn nun ausgerechnet das beschauliche Graz die typischen Merkmale auf Grund der Abwanderung zu beklagen hat, belegt dies höchstens, dass es sich nicht ausschliesslich um ein Problem der Metropolen handelt.

Die Veranstaltung im Haus der Architektur, die nicht Bestandteil des offiziellen Graz-03-Programms ist, passt gut ins aufgeregte Umfeld der Kulturhauptstadt, weil sie auf die Kehrseite der Medaille aufmerksam macht. Die europäische Stadt von heute muss in eigener Sache werben, dabei läuft sie Gefahr, zur Kulisse ihrer selbst und zum touristischen Vergnügungsviertel zu werden. Indirekt stellt sich hier die Frage, inwieweit Kulturhauptstadtprojekte geeignet sind, eine positive Veränderung des Stadtraumes zu bewirken. Gerade Graz prägt seit je ein Hang zur Selbstdarstellung. Was nicht zuletzt als ein Resultat des Daseins «hinter dem Semmering» im Allgemeinen und seiner Randlage während der Teilung Europas im Kalten Krieg im Besonderen erscheint. So bietet sich Graz wahlweise an als ruhiges Rentnerparadies «Pensionopolis» oder als lebendige Studentenstadt, als Stadt der Kultur oder der weiblichen Grazien. Die literarische und später architektonische Avantgarde mit ihrer Bewegung, sich von historischen Vorbildern und kultureller Tradition abzusetzen, rieb sich gern am traditionellen bis reaktionären Grazer Klima. Den Kulturkampf hat man sich in Graz im Image einer Stadt der Gegensätze anverwandelt und im Übrigen gelernt, mit Kritik umzugehen.

Dass Graz als Kulturhauptstadt eine besondere Auffälligkeit zeigt, verdankt sich auch dem besonderen Talent der Selbstinszenierung. Souverän hat man die Gratwanderung, die das Grossprojekt «Kulturhauptstadt Europas» zwischen Seriosität und Populismus bedeutet, gemeistert. Man hat auf Folklore verzichtet und den Schwerpunkt auf nachhaltige Projekte in der Architektur gelegt. Bemerkenswertes ist dabei herausgekommen, zum Beispiel eine Insel in der Mur und ein voraussichtlich im Herbst zu eröffnendes Kunsthaus.

Wie immer gibt es zwar die Schneekugeln mit dem Uhrturm en miniature zu kaufen. Aber selbst beim Souvenir geht in diesem Jahr nichts ohne den schwarzen Doppelgänger, den der Künstler Markus Wilfling dem Grazer Wahrzeichen auf dem Schlossberg zur Seite gestellt hat. Und man staunt darüber, dass die Grazer dem Vernehmen nach den erst mit Misstrauen beäugten Uhrturmschatten gerne für immer behalten würden. Dabei drängt sich beim schwarzen Spiegelbild des hoch über der Altstadt schwebenden Wahrzeichens durchaus die Assoziation an dunklere Zeiten auf, in denen die Stadt sich während des Nationalsozialismus als eine der ersten als «judenfrei» hervortat und dafür gerne den Titel einer «Stadt der Volkserhebung» trug.
Schatten der Vergangenheit

So ist vielleicht das wichtigste Projekt im Rahmen der Kulturhauptstadt eines, von dem man derzeit gar nicht spricht - vielleicht weil es schon vor drei Jahren verwirklicht wurde oder möglicherweise weil der Schatten, den es wirft, doch etwas den Kulturhauptstadtglanz beeinträchtigen könnte. Im Hinblick auf Graz 03 sahen manche politisch Verantwortlichen die Chance, dass Graz sich endlich auch den dunklen Seiten der eigenen Vergangenheit stelle, mit deren Aufarbeitung es sich bisher nicht gerade hervorgetan hatte. Auf gemeinsame Initiative des damaligen Bürgermeisters Alfred Stingl und des Kulturstadtrates Helmut Strobl beschloss der Gemeinderat 1998 einstimmig den Neubau der Grazer Synagoge an jenem Ort, an dem die alte am 9. November 1938 zerstört worden war.

Der neue Bau wurde der Israelitischen Kultusgemeinde am 9. November 2000 als ein offizielles Zeichen gegen das «Vergessen und Verdrängen» übergeben. Das Grazer Architektenpaar Jörg und Ingrid Mayr erarbeitete einen behutsamen Entwurf. Er nimmt die geometrische Ausrichtung auf, wie sie den historischen Bau (1892) des Wiener Architekten Maximilian Katschner in Würfel und Kugel prägte als eine Anlehnung an Sempers berühmte Dresdner Synagoge. Die alten Ziegel, die von den Nationalsozialisten im Garagenbau weiter verwendet worden waren, wurden von Grazer Schülern gereinigt und dienten der Vervollständigung des erhaltenen historischen Fundaments sowie dem ansatzweisen Wiederaufbau der alten Türme, die dem etwas kleineren Neubau vorangestellt sind. So scheint sich der neue Bau aus den Ruinen des alten zu erheben. Ohne die Verpflichtung zur Rückbesinnung, die der Status einer europäischen Kulturhauptstadt mit sich gebracht hat, hätte man wohl noch lange vergeblich auf ein Zeichen gewartet dafür, dass Graz Verantwortung übernimmt für die Ereignisse der Vergangenheit. Zu den seltsamen Begebenheiten einer Kulturhauptstadt mag es gehören, dass die Stadt der Israelitischen Kultusgemeinde zwar den Neubau schenkte, diese die nötigen Sicherheitsvorkehrungen - in Deutschland wäre dies undenkbar - aber grösstenteils selbst tragen muss.
«Friendly Alien»

Der Standort der Synagoge am rechten Mur- Ufer wird nun durch die neuen Projekte Kunsthaus und Mur-Insel belebt und gestärkt. Alle drei dienen städtebaulich der Aufwertung des Flussbereichs sowie des rechts vom Fluss gelegenen Stadtteils, der als ehemaliges Arbeiterviertel jenseits der berühmten historischen Vorzeige-Altstadt bis heute ein Schattendasein fristet. Das noch im Bau befindliche Ausstellungshaus der Architekten Peter Cook und Colin Fournier erscheint im Grazer Kontext als eine in mehrfacher Hinsicht bestechende Lösung. Einerseits wirkt es mit seiner blauen Acrylhülle zeichenhaft und behauptet sich im plastisch anmutenden historischen Stadtkörper. Andrerseits hat es in seiner Verspieltheit etwas Barockes und bekennt sich damit zur alten Substanz. Diese Absetzbewegung bei gleichzeitiger sanfter Einordnung ins Stadtgefüge setzt die Qualität jener etwas missverständlich als Grazer Schule bezeichneten Architekturszene fort, deren Anfänge in die sechziger Jahre zurückgehen. Das Kunsthaus erscheint als ein Fortschreiben der lokalen Architekturtradition mit anderen Mitteln. Es tauscht das dekonstruktivistische Vokabular, mit dem die Grazer Schule sich international etablierte, ein gegen eine organische Form, mit welcher es sich im städtischen Kreislauf verbindet.

Das Blasenartige des Entwurfs war allerdings keine stilistische Entscheidung der Architekten, sondern ist das Ergebnis der jahrelangen und schwierigen Entstehungsgeschichte des Grazer Kunsthauses, das ursprünglich in die Gewölbe des Schlossbergs implantiert werden sollte. Cook und Fournier haben ihren Entwurf für den ersten Wettbewerb - ein flexibles Gebilde, das aus dem Berg in die Stadt mäandert - an den neuen Standort jenseits der Mur transformiert. Wie ein Luftkissen hat es sich über den Fluss bewegt und landete sanft am neuen Ort beim Südtirolerplatz, wo es sich nun an das teilweise erhaltene Denkmal des Eisernen Hauses anschmiegt. Mit dem prägnanten Gusseisenskelettbau aus dem Jahr 1846 geht die neue Architektur eine physische wie funktionelle Verbindung ein. «Alien» nennen es die Architekten auf Grund der Entstehungsgeschichte, «Friendly Alien» korrigierten die Stadtverantwortlichen mit Nachdruck. Das wäre gar nicht nötig, denn das blaue Wesen korrespondiert von ganz alleine gut mit anderen herausragenden Architekturen der Stadt: zum Beispiel mit dem am anderen Ufer der Mur in Sichtweite gelegenen Grazer Kaufhaus Kastner und Öhler. Das gründerzeitliche Juwel, dem das Architektenpaar Szyszkowitz und Kowalski eine leichte und schwebende gläserne Moderne einhauchte, stellt ein Vorzeigestück einer erneuernden Architektur in historischem Umfeld dar.

In der Sichtachse zwischen Kunsthaus und Kaufhaus liegt der zweite aufsehenerregende Bau im Bereich der Mur-Vorstadt, die Mur-Insel des New Yorker Allroundkünstlers Vito Acconci. Wie ein Tragflügelboot schwimmt die filigrane Stahlrohrgitter-Konstruktion nördlich des Mur-Stegs im Wasser. Die als zeitlich begrenzte Installation gedachte Mur-Insel beherbergt ein Café, ein Amphitheater und einen Kinderspielplatz und hat sich zum Lieblingsobjekt entwickelt, für dessen Verbleiben die Grazer sich nun ausgesprochen haben. Derzeit wirft allerdings die Ankündigung des Bundes, als landesweiter Herr der Flüsse eine Wasserpacht von 10 000 Euro pro Jahr einzutreiben, hohe Wellen im Musterort, wo man düpiert darauf hinweist, dass der steirische Kulturhauptstadtglanz ganz Österreich erstrahlen lässt. Von der Mur-Insel aus betrachtet, wirkt die Stadt viel grösser und erhabener. So oder so ist aber das Wichtigste, dass es den Grazern selber gefällt. «Es kost' zwoa vüh, aber 's schaut guat aus», meinte ein junger Grazer nach der ersten Begehung auf die Frage, wie ihm denn das neue Kunsthaus gefalle.

Irgendwie scheint Graz, sonst eher als leicht verschlafene Provinzstadt mit südlichem Charme geliebt, im Kulturhauptstadtjahr ein bisschen über sich selbst hinausgewachsen zu sein. Eine Öffnung nicht nur gegenüber ausländischen Gestaltern wie Cook und Fournier und Acconci ist zu verzeichnen, auch nach innen ist Wagemut angesagt, wo einmal nicht die alte Garde der Grazer Architektur um Günther Domenig aufscheint. So konnte das Grazer Team Florian Riegler und Roger Riewe den Wettbewerb für das Literaturhaus für sich entscheiden. Der minimalistische Entwurf distanziert sich - wie auch das Kunsthaus und die Mur-Insel - vom Grazer dekonstruktivistisch Gewachsenen. Die Architekten haben das historische Palais an der Elisabethstrasse behutsam in den ursprünglichen Zustand zurückgeführt. Hofseitig wurde ihm ein L-förmiger, zweistöckiger Neubau aus Beton zur Seite gestellt, der sich in Habsburger Gelb satt durchgefärbt gibt. Es ist ein lauschiger urbaner Ort geworden, der Altes und Neues harmonisch in Dialog setzt und in seiner Klarheit der Literatur, die hier zu Wort kommen soll, den Vorrang einräumt.
Es geht um die Wurst

Fehlplanungen wie die Neukonzeption des Jakominiplatzes hat Graz an der Schwelle zum neuen Jahrtausend zu vermeiden gewusst. Dem zentralen Knotenpunkt des öffentlichen Verkehrs trieb man in den neunziger Jahren das kleinstädtische Nachkriegs-Ambiente gründlich aus mit einer Heerschar von signalgelb gestrichenen Lichtmasten, die dem Grazer Platz am Eingang zur Fussgängerzone den Flutlichtcharme eines DDR-Grenzpostens verleihen und den Ort so recht verschandeln.

Graz befindet sich immer im Zwiespalt, für eine Provinzstadt zu gross und für eine Metropole zu klein zu sein. So wurde es einem im Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres bei der Ankündigung, den Hauptplatz vor dem Rathaus in eine repräsentative «italienische Piazza» verwandeln zu wollen, angst und bange um jene zusammengewürfelte originäre Grazer Mischung von Blumenverkäuferinnen, Strassenmusikanten und Wurstbuden mit Aussicht auf den Schlossberg. Der Würstlstand hat gottlob überlebt trotz Graz 03. Eleganter, normiert und gedrängter zwar präsentieren sich die kleinen Häuschen jetzt, so dass sie die umstehenden, bis in die Gotik zurückreichenden Häuserfassaden und den Blick zum Schlossberg nicht verstellen - vor allem abends, wenn alles nach Markus Pernthalers gelungener Gestaltung schön indirekt beleuchtet ist. Und wer diese Sorge um den Würstlstand am Hauptplatz nicht versteht, dem möchte man eine Geschichte aus der Kindheit entgegenhalten, bei der es um die Wurst geht. Aber da kommt einem prompt ein Bub mit seiner Oma dazwischen, der um die obligate Belohnung nach erschöpfender Einkaufstour bettelt.

Graz bleibt Graz. Ein Ort der Bewegung, auf seltsame Art unverändert. «Bleiben Sie dran, wir sind gleich für Sie da», verspricht die von nettem Vogelgezwitscher begleitete Stimme auf dem Anrufbeantworter des Restaurants «Landhauskeller» und stellt gleich noch das Schmankerl einer «Rindfleischsülze mit Kernöl» in Aussicht. In Gedanken hoffnungsfroh bei den kulinarischen Genüssen, merkt man erst nach einiger Zeit, dass man längst in der Endlosschlaufe hängt und sich auch keiner mehr melden wird. Denn sonntags ist Ruhetag, auch in einer Kulturhauptstadt.

[ Die Ausstellung «Grazland - 100% Stadt» im HdA dauert bis zum 19. Dezember. Begleitpublikation: 100% Stadt. Der Abschied vom Nichtstädtischen. Konzeption: Ernst Hubeli, Harald Saiko, Kai Vöckler. Verlag Haus der Architektur, Graz 2003. 256 S., Euro 19.90 (ISBN: 3-901174-51-6). - Curves and Spikes. Peter Cook und Colin Fournier und Klaus Kada. Kunsthaus und Stadthalle für Graz. Hrsg. Kristin Feireiss, Hans-Jürgen Commerell. Galerie Aedes, Berlin 2003. 60 S., Euro 10.-. ]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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