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Ökohäuser und wuchernde Höhlen
Neue Zürcher Zeitung

Architekturmarathon durch das sommerliche Wien

Das Bauen feiern andere Städte mit Biennalen oder Architektursommern. In Wien hingegen scheint sich ein permanenter Architekturmarathon einzurichten. Hier buhlen nämlich das Architekturzentrum, das Museum für angewandte Kunst, der Ringturm und bald auch die rundum erneuerte Albertina mit Baukunst um Besuchergunst.

18. Juli 2003 - Roman Hollenstein
Wien ist, man weiss es, ein Museum, und dieses ist in Sachen Architektur lebendiger denn je. Neben den bekannten Sehenswürdigkeiten rückt immer mehr die vornehm-theatralische Ringstrasse mit den Prachtbauten von Ferstel, Hansen, Hasenauer oder Semper ins Zentrum des Interesses. Eine ähnliche Gründerzeit, wenn auch weniger pompös als die des späten 19. Jahrhunderts, erlebt die Donaumetropole gegenwärtig wieder. Sie offenbart sich in Verrücktheiten wie Hans Holleins Haas-Haus beim Stephansdom oder den von Jean Nouvel, Coop Himmelb(l)au und anderen umgebauten hundertjährigen Simmeringer Gasometern. Hinzu kommen städtebauliche Unternehmen wie die «Donau-City» oder das Hochhausprojekt «Wien Mitte», welches von der Unesco mit Verweis auf das Weltkulturerbe der Innenstadt bekämpft wird. Eine ähnliche Dynamik lässt sich auch auf dem Gebiet der Museumsarchitektur ausmachen: Spürt das von Jabornegg & Pálffy mit minimalistischer Präzision in den Untergrund der Stadt getriebene Museum Judenplatz der jüdischen Vergangenheit nach, so lädt die rundum erneuerte Albertina ein zur Besichtigung der ebenso klaren wie formsicheren Erweiterungen von Steinmayr & Mascher, der wunderbar restaurierten Kornhäusel-Säle und der von Hollein gestalteten Eingangspartie, deren skulpturales Flugdach allerdings noch etwas auf sich warten lässt.


Arme Architektur aus Frankreich

Wie eine riesige Bauplastik wirkt auch Volker Gienckes expressiv verwinkelter, mit Plexiglas umhüllter Red Room aus Fichtenholz, der - halb Bühne, halb schattiger Tunnel - noch bis zum 3. August zu begehen ist: und zwar im stets belebten Hof des aus dem Messepalast der beiden Fischer von Erlach hervorgegangenen Museumsquartiers. International ebenso beachtet wie die Neubauten von Ortner & Ortner (von denen der dunkle Schrein des Mumok einen Rundgang lohnt) wurde hier im Oktober 2001 das mit einem Himmel aus türkischen Kacheln versehene «Una»-Café des Architekturzentrums Wien (AzW) von Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal. Mit sparsamsten Mitteln veränderten die beiden stimmungsmässig das historische Raumgefüge, so dass ein Kultlokal entstanden ist, welches ganz nebenbei die orientalischen Wurzeln der Wiener Kaffeehauskultur erhellt.

Diesen Meistern einer «armen», kostengünstigen Architektur, deren ungeschminkt-roher Umbau des Palais de Tokyo zum Site de création contemporaine vor anderthalb Jahren nicht nur in Paris Aufsehen erregte, widmet das AzW zurzeit eine Retrospektive. Auf Stellwände aufgezogenes Text- und Bildmaterial sowie einige Videos veranschaulichen den architektonischen Kosmos von Lacaton & Vassal. Neben Projekten, bei denen sie fast ohne Eingriff den Geist des Ortes zu verdichten wissen, werden Billighäuser aus vorgefertigten Materialien präsentiert: eine von Meerkiefern durchwachsene Villa, welche sie für gut 120 000 Euro am Cap Ferret realisierten, ebenso wie ein Universitätsgebäude in Grenoble oder ein Bürohaus in Nantes, die beide kaum mehr als 3 Millionen Euro kosteten.

Entscheidend für die Karriere dieses Teams aus Bordeaux war die erfolgreiche Teilnahme an den «Albums de la Jeune Architecture» von 1991. Kurz darauf wurde dann dieser Nachwuchspreis des französischen Kulturministeriums gestrichen, um jüngst doch noch eine Renaissance zu erleben. Die Arbeiten der 16 Ausgezeichneten von 2002 sind bis zum 22. August in der Eingangshalle des Institut français an der Währinger Strasse 30 zu sehen. Vorgestellt werden unter anderem die Arteplage mobile du Jura der 35-jährigen Pariser Didier Faustino und Pascal Mazoyer, das über hohen Mauern als Glaskörper in Erscheinung tretende Gymnasium Cosec Ruffi in Marseille von Rémy Marciano oder Raphaëlle Hondelattes aufgeständertes Ökohaus am Cap Ferret.


Zaha Hadids wirbelnde Bauten

Während die Schau im Institut français mit wenig Aufwand viel Information vermittelt, setzt die mit barocker Rhetorik inszenierte Retrospektive der in London tätigen Irakerin Zaha Hadid im Museum für angewandte Kunst (MAK) auf optische Verführung. Schon in der grossen Eingangshalle wird man von der Installation «Ice- Strom» überwältigt: Diese höhlenartig wuchernde Wohnlandschaft der Zukunft bietet mit Ausnahme von Tischen und Liegen keine ebenen Flächen, so dass sich für Nippes wie das von Hadid entworfene Kaffeeservice zwar Nischen finden, für deren «Major Paintings» aber keine Wände. Daher nehmen diese Gemälde, die als «multiperspektivische Projektionen» weniger reale Bauten oder Projekte wiedergeben als vielmehr von Hadids aussergewöhnlichem räumlichem Vorstellungsvermögen zeugen, einen der drei grossen Seitensäle ein. Vom frühen, noch weitgehend Rem Koolhaas verpflichteten Eaton-Place-Entwurf über die legendäre Gruppe explosiver «Hong Kong Peak»-Darstellungen (die allein schon den Besuch der Schau rechtfertigen würden) bis hin zum Zentrum für zeitgenössische Kunst in Rom vermitteln diese gemalten Visionen zusammen mit einer Vielzahl von Modellen einen Eindruck von Hadids furioser Entwurfsstrategie. Abschliessend rücken grossflächige Fotos einige vollendete oder noch im Bau befindliche Werke wie die Innsbrucker Bergisel-Sprungschanze, das Contemporary Arts Center in Cincinnati oder das Science Center Wolfsburg ins Rampenlicht.

Berauscht von der spektakulären Zurschaustellung von Hadids höchst subjektiver und mithin nicht unumstrittener Architektur, die zweifellos einen Höhepunkt des Wiener Ausstellungssommers bedeutet, gelangt man auf dem internen Parcours vorbei an der permanenten Präsentation von Architekturmodellen des 20. Jahrhunderts (darunter Kieslers Endless House und Libeskinds Jüdisches Museum in Berlin) zur MAK-Galerie im prächtigen Ferstel-Bau. Dort werden noch bis zum 3. August unter dem enigmatischen Titel «Species - FOA's phylogenesis» die Bauten und Projekte des jungen, von der Iranerin Farshid Moussavi und dem Spanier Alejandro Zaera Polo gegründeten Londoner Büros Foreign Office Architects unter «stammesgeschichtlichen» Gesichtspunkten präsentiert. Ihr Versuch, «Stil und Autorschaft» zu überwinden, führt zu so unterschiedlichen Lösungen wie dem Projekt des aus schlaufenartig ineinander verwobenen Etagen bestehenden Azadi-Kinozentrums in Teheran, dem in den Himmel züngelnden Bundle-Tower-Entwurf für Ground Zero oder dem von einer wogenden Dachlandschaft dominierten, unlängst in Yokohama realisierten Fährterminal.


Von der Toskana zum «Architekturlaub»

Eine Gegenwelt zur modischen Exzentrik von FOA oder Hadid bildet die kleine Scarpa-Schau im Kunstblättersaal. Hier sind bis zum 14. September vom MAK erworbene Originalzeichnungen (darunter ein grossartiges Blatt für die Tomba Brion), Planpausen und kleine Holzmodelle zu sehen, welche Carlo Scarpas Zusammenarbeit mit dem Kunsttischler Saverio Anfodillo illustrieren. Brachte das Veneto mit Scarpa eine Jahrhundertfigur hervor, so ist ausserhalb Italiens die toskanische Architekturgeschichte des vergangenen Jahrhunderts - abgesehen vom Florentiner Hauptbahnhof (1934) des Gruppo Toscano um Giovanni Michelucci - kaum bekannt. Diese versucht nun eine Ausstellung im Ringturm zu erhellen, zu der Philip Johnsons Bauskulptur «Wiener Trio» von 1996 am Franz-Josefs-Kai den Weg weist. Auf einem Parcours, der vom Liberty genannten Jugendstil über Rationalismus, Neorealismus und Brutalismus bis in die Gegenwart führt, werden Hauptwerke der toskanischen Moderne gezeigt, die von avantgardistischen und ländlichen Einflüssen ebenso geprägt sind wie vom historischen Kontext. Dabei begegnet man Juwelen wie Micheluccis Autobahnkirche in Campi Bisenzio, Leonardo Saviolis Villa Taddei in Fiesole, aber auch Wohnmaschinen wie dem Triangolo in Pistoia oder den postmodernen Megastrukturen der einstigen Revolutionäre von Superstudio.

Durch die Toskana-Bilder etwas auf Ferien eingestimmt, wird man beim Schlagwort «Architekturlaub» hellhörig. Mit diesem will das AzW vom 24. Juli bis zum 1. September den in der Stadt Zurückgebliebenen neue Wiener Grossprojekte mittels «Sommer-Tours» und einer Ausstellung näherbringen. Mit solch kommerziell ausgerichteten und von Developern getragenen Veranstaltungen versucht sich dieses Haus, das im Juni sein zehnjähriges Bestehen feiern konnte, zu behaupten, wird doch sein Jahresetat von 2,9 Millionen Euro nur noch zur Hälfte von Stadt und Bund getragen. Verschärft wird die Situation des AzW zusätzlich durch die Konkurrenz unter den Ausstellungshäusern Wiens, die sich mit einem austauschbaren Angebot gegenseitig immer wieder auszustechen suchen.


[Zaha Hadid bis 17. August im MAK. Katalog: Zaha Hadid. Hrsg. Peter Noever. Hatje-Cantz-Verlag, Ostfildern-Ruit 2003. 192 S., Fr. 56.- (Euro 35.- in der Ausstellung). - Lacaton & Vassal bis 6. Oktober im AzW. Katalog: Lacaton & Vassal. Jenseits der Form. Architekturzentrum Wien, 2003. 72 S., Euro 4.40. - Architektur der Toscana bis 3. Oktober im Ringturm. Katalog: Architetture del Novecento. La Toscana. Hrsg. Ezio Godoli. Edizioni Polistampa, Florenz 2001. 342 S., Euro 41.50.]

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Für den Beitrag verantwortlich: Neue Zürcher Zeitung

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