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Architektur als Gesamtkunstwerk
Neue Zürcher Zeitung

Gottfried Semper - eine grosse Retrospektive in München

Der 1803 in Hamburg geborene Baukünstler Gottfried Semper sicherte sich architekturgeschichtlichen Ruhm mit Bauten in Dresden, Zürich, Winterthur und Wien, aber auch mit seinen bis heute nachwirkenden theoretischen Schriften. Nun würdigt eine grosse Ausstellung in der Münchner Pinakothek der Moderne sein vielseitiges Schaffen.

13. Juni 2003 - Roman Hollenstein
Als der grösste deutsche Architekt des 19. Jahrhunderts nach Schinkel wird Gottfried Semper (1803-1879) gern bezeichnet. Gleichwohl tun wir uns mit seinen Bauten schwer. Denn anders als in den Klassizisten Klenze oder Schinkel und anders als in Theophil Hansen, seinem rationalistischen Wiener Gegenpol, sehen wir in Semper, der angetreten war, die Tradition der als «Verfallsform» bezeichneten Renaissance wiederzubeleben, einen Hauptexponenten barocker Theatralik. Der schwelgerische Pomp der von ihm und Carl Hasenauer entworfenen Architektur des Wiener Kaiserforums ist uns heute fremd, und selbst seine «demokratischen» Zürcher Bauten wirken auf uns - verglichen etwa mit Gustav Albert Wegmanns einfach-klarer alter Kantonsschule - gravitätisch. Einzig die malerisch-asymmetrisch komponierte, «wahrlich poetische» Zürcher Sternwarte, der Winterthurer Rathaus-Tempel oder die ländliche Villa Garbald in Castasegna offenbaren einen schlankeren, «moderneren» Semper.


Theorie und Theatralik

Unsere Schwierigkeit mit diesem genialen Baukünstler kann zumindest teilweise aus dessen sich zwischen höfischer Karriere und Exil bewegendem Schicksal erklärt werden. Das während der unfreiwilligen Mussestunden in der Fremde angelegte und in Zürich vollendete Theoriegebäude wirkte auf den Gebieten der Typologie, des Kontextualismus, vor allem aber bezüglich des «Prinzips der Bekleidung» (und der daraus hervorgegangenen modernen Trennung von Konstruktion und Hülle) weiter bis in die Gegenwart. So konnte Harry Francis Mallgrave 1996 in seiner wegweisenden Semper-Monographie feststellen, dass sich in der Rezeption von Sempers Werk «ein Spalt öffnete (. . .) zwischen seinen stets gedankenvollen und scharfsichtigen künstlerischen Analysen und seinen historistischen Bauten, denen man nunmehr wenig Interesse entgegenbrachte». Dies nicht zuletzt wegen Sempers Neigung zum überschwänglichen Dekor, der anders als das «Schmucklose und Kahle» der von ihm kritisierten Klassizisten bei den Heroen der Moderne nur auf Ablehnung stossen konnte.

Mallgraves ganzheitlich ausgerichtete Forschungen ermöglichten eine neue Sicht dieses «Michelangelo des 19. Jahrhunderts», dessen Lehre gerade in der Schweiz über die Semper- Schule nachhaltig weiterwirkte. Das neue Interesse an Semper wird nun im Hinblick auf dessen 200. Geburtstag am 29. November durch eine grosse, vom Institut «gta» der ETH, die Sempers kostbaren Nachlass verwaltet, und dem Architekturmuseum der TH München organisierte Ausstellung vertieft, welche soeben in der Münchner Pinakothek der Moderne eröffnet wurde und Ende Jahr auch in Zürich zu sehen sein wird. Sie präsentiert Sempers Werk anhand kostbarer Pläne, Zeichnungen, Modelle sowie historischer Dokumente und Fotos in einer chronologisch- thematischen Abfolge, die allerdings das Theatralische etwas allzu sehr betont.

Schon die frühen Aquarelle antiker Tempel und der erste architektonische Entwurf für den Donner-Pavillon in Hamburg zeigen den 30-jährigen Semper als künstlerisch und entwerferisch reife Persönlichkeit. Dabei hatten seine von Ausschweifungen und Raufereien geprägten Lehr- und Wanderjahre in Göttingen, München, Paris, Italien und Griechenland kaum eine grosse Karriere ahnen lassen. Doch dann wurde er im Mai 1834 dank seinem Pariser Lehrer Franz Christian Gau und aufgrund seiner Beiträge zur damals hochbrisanten Diskussion der Polychromie antiker Bauten als Architekturprofessor an die Kunstakademie in Dresden berufen. Hier konnte er neben kleineren Arbeiten (darunter ein Schlüsselwerk der Synagogenarchitektur) zwei Bauten realisieren, die seinen Ruhm begründeten: das von römischen Vorbildern hergeleitete, zur Stadt mit einem Halbrund in Erscheinung tretende Hoftheater und die Klenzes Münchner Pinakothek verpflichtete Gemäldegalerie, die beide urbanistisch überzeugend in den sensiblen Kontext von Zwinger und Schlosskirche integriert wurden.


Demokratie und Neuabsolutismus

Nach dem gescheiterten Dresdner Mai-Aufstand von 1849, an dem er und Richard Wagner sich beteiligt hatten, floh der steckbrieflich gesuchte Semper über Paris nach London, wo er anlässlich der Weltausstellung 1851 in Paxtons Kristallpalast einige Länderkojen gestalten und ausgiebige Grundlagenforschung für seine Schriften treiben konnte, die während der Zürcher Jahre in der epochalen, das deutsche Geistesleben prägenden Kulturtheorie «Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten» kulminieren sollten. Dass Semper 1855 nach Zürich berufen wurde und dort die Architekturabteilung am neu gegründeten Polytechnikum aufbauen konnte, verdankte er nicht zuletzt seinem Freund Wagner. Hier gelang ihm mit der «Stadtkrone» des Polytechnikums, in der sich Kunst und Wissenschaften programmatisch vereinigen, ein Hauptwerk der historistischen Architektur. Der Burg des Wissens folgte mit dem Winterthurer Rathaus sein schönster Bau: ein Tempel der Demokratie: In diesem fand Semper auf der Suche nach dem Ausgleich aller Kräfte zu einer ebenso klassischen wie theoretisch komplexen Lösung, in der sich die Erkenntnisse des «Stils» niederschlugen.

In der «Republik der Vielregiererei» fühlte sich Semper aber nicht lange glücklich. Musste er doch sein Projekt für den neuen Zürcher Hauptbahnhof ebenso scheitern sehen wie die wohl in der Tradition der Villa Laurentium konzipierte Vision des neurömischen Rieter-Palasts am Zürichsee oder den Entwurf für die urbanistisch von der Piazza San Marco angeregte Neuanlage des Zürcher Kratzquartiers, das als «demokratisches Forum» zum stimmigsten historistischen Ensemble Europas hätte werden können. Umso lieber setzte Semper daher auf die alte Allianz zwischen Herrscher und Architekt (von der noch Le Corbusier träumte) und plante für Ludwig II. in München ein städtebaulich monumental angelegtes Wagner-Festspielhaus. Doch das zukunftsweisende Projekt, das auf dem refüsierten Wettbewerbsentwurf für eine Oper in Rio de Janeiro (1858), aber auch auf Wagners Theatervorstellungen basierte, blieb unrealisiert. Als dann im September 1869 das Dresdner Hoftheater niederbrannte, drängte Semper darauf, den Bau im «barocken» Hochrenaissance-Stil seines Münchner Entwurfs samt Exedra und von Dionysos gelenkter Pantherquadriga wiederaufzubauen.

Diese theatralisch überhöhte Formensprache entwickelte er in Wien weiter, wo er - 1869 zum Gutachter des grossen Museumswettbewerbs berufen - bald schon Franz Joseph von der Notwendigkeit eines Kaiserforums überzeugen konnte, das die von Hasenauer entworfenen und von Semper überarbeiteten Museen für Kunst und Natur, die Neue Hofburg sowie das Burgtheater umfasste. Dass Semper in Wien das Glück nicht fand, lag wohl weniger an den Intrigen seines ehrgeizigen Kollegen als vielmehr an der Hybris seines neuabsolutistischen Projekts. Nach Sempers überstürztem Verlassen Wiens wurden die «kolossalen Pläne für einen zusammenstürzenden Staat» (Wagner) von Hasenauer überarbeitet, so dass sich Sempers Anteil an den ausgeführten Bauten bis heute nicht exakt bestimmen lässt.

Der fulminanten Ausstellung gelingt es, den reichen Kosmos von Sempers architektonischem Gesamtkunstwerk mit überbordender Eloquenz zu veranschaulichen. Gleichzeitig entpuppt sich der sie begleitende, mit einer Vielzahl von Dokumenten und Klaus Kinolds präzisen Fotos prachtvoll illustrierte Katalog, der zusätzlich Gewicht erhält durch ein umfassendes Werkverzeichnis, als eine Fundgrube des Wissens. Feiert man Semper in München mit bayrischer Lust am Festlichen als Genius der Architektur, so wird sich hoffentlich dann Zürich seinem Œuvre nochmals anders, nämlich aus demokratisch-puritanischer Warte, annähern.


[Bis 31. August in München, anschliessend vom 1. November bis 25. Januar 2004 im Museum für Gestaltung in Zürich. Katalog: Gottfried Semper. 1803-1879. Hrsg. Winfried Nerdinger und Werner Oechslin. Prestel-Verlag, München, und gta-Verlag, Zürich, 2003. 517 S., Fr. 112.- (Euro 38.- in der Ausstellung).]

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